Essen. Uraufführung auf der Pact-Bühne: Wie die dänische Choreographin Mette Ingvartsen in ihrem neuen Werk „The Dancing Public“ Tanzwut ausleuchtet.

Menschenmassen, die plötzlich anfangen, in den Straßen zu tanzen. Mehrere Tage, sogar Wochen, ohne Pausen, ohne Essen, zuckend, schreiend, bis zur völligen Erschöpfung. Und scheinbar grundlos. 1374 brach solch eine Tanz-Epidemie in Aachen aus, 1518 in Straßburg. Vor zwei Jahren begann Mette Ingvartsen, sich mit dem Thema tänzerischer Ekstase zu beschäftigen. Die Corona-Pandemie kam dazwischen, warf akut ein neues Licht auf Fragen nach dem Körper in Krisenzeiten.

Mette Ingvartsen ist immer schon eine Forschende, eine spielerisch Ergründende. Die dänische Choreographin ersprang sich auf dem Trampolin eine Machbarkeitsstudie der menschlichen Physis. Sie untersuchte sich verändernde Landschaften. Sie choreographierte Materialien, da waren dann silberglänzende Konfetti ihre Protagonisten. Sie beschäftigte sich mit dem Thema Sexualität. In ihrer ersten Museumsarbeit „The Life Work“, die als Auftrag der Ruhrtriennale Teil der aktuellen Ausstellung „Global Groove“ zur Tanzgeschichte im Museum Folkwang ist, vermengt sie technische und natürliche Elemente. Sie hat sie einen künstlichen Garten entworfen, in dem vier Japanerinnen ihre Lebensgeschichte erzählen.

Das Publikum wird zum Forschungsgegenstand

https://www.waz.de/staedte/essen/pact-zollverein-stellt-soziale-fragen-ins-zentrum-der-kunst-id233255955.html In ihrer neuen, jetzt bei Pact Zollverein uraufgeführten Arbeit „The Dancing Public“ wird auch das Publikum zum Forschungsgegenstand. „Heute Nacht werden wir tanzen. Unsere Herzen werden tanzen“ – mit einem motivierenden Sprechgesang-Mantra bewegt sich eine strahlende Mette Ingvartsen in ihrem Solo durch die stehenden, wippenden Zuschauenden. Manch einer tanzt mit. Die 60 Minuten durchlaufenden elektronischen Beats schaffen Club-Atmosphäre auf der Pact-Bühne.

Ingvartsen berichtet aus der Vergangenheit, erzählt von möglichen Erklärungen für die ‚Tanzwut‘, von Besessenheit, Dämonen, Epilepsie. Dabei ist sie permanent in Bewegung, ein Mix aus Techno-Tanz und notwendiger Aktivität. Da bewegt sich ein Körper, der gar nicht anders kann. Offener Mund, wirbelnder Kopf und die Beine kratzenden Hände. Energiegeladene Ausgelassenheit und Zwang wirken da zusammen, wechseln sich ab, gehen ineinander über. Schritte des Tarantella-Tanzes, bei dem von der Spinne Gebissenen das Gift aus dem Körper getrieben werden sollte, blitzen durch.

Auf drei Podesten bewegt sich die Tanz-Erkunderin, spricht mit verzerrter Stimme, singt mit Hall oder rappt. So wirft sie Schlaglichter auf historische Ereignisse, ihre (Fehl-)Interpretationen und zeigt den Körper in seiner Bedingtheit. Tanz kann da heilend wirken. Aber wirklich mitreißen kann dieser Abend dann doch nicht. Die Ekstase bleibt seziertes Anschauungsmaterial.