Essen. Nach der Bombennacht vom 10. August mit 10.000 Betroffenen drohen bald wieder ähnliche Lagen. Müssen wirklich ganze Stadtteile evakuiert werden?
Kurzfristig können die dichtbesiedelten Stadtteile nach den letzten Bodenanalysen aufatmen, im Herbst allerdings könnte womöglich wieder eine ähnlich lange Bombennacht drohen wie am 10. August. Die ungewöhnlich aufwendige Entschärfung führte vor einigen Wochen für rund 10.000 Menschen zu gravierenden Eingriffen in ihr Alltagsleben und beschwor wegen der Transportzwänge auch erhebliche Risiken für zahlreiche Alte und Kranke herauf.
Muss das wirklich immer so sein? Klar, wir leben in einer Zeit, in der Sicherheit ganz oben rangiert und jedes noch so kleine Risiko möglichst eliminiert werden soll. Und es ist gewiss unstrittig, dass die unmittelbare Umgebung bei einer Entschärfung evakuiert werden muss. Eine auf absolute Sicherheit setzende Bürokratie ist aber zusehends unwillig, die Verantwortung für Restrisiken zu übernehmen, mögen diese auch so theoretisch sein wie sie wollen.
Noch 500 Meter von der Fundstelle entfernt wurden Häuser geräumt - völlig übertrieben
Also wird Risiko-Minimierung bis ins Groteske betrieben. Noch Gebäude 500 Meter entfernt von der Fundstelle wurden am 10. August geräumt, und das obwohl zwischen ihnen und der Bombe ein Dutzend Reihen massiver Häuser als Puffer liegen, die im schlimmsten, wenn auch unwahrscheinlichen Fall wirksamen Schutz geboten hätten. Statt die Menschen in diesen entfernten Häusern in Ruhe zu lassen, mussten viele bis tief in die Nacht sehen, wo sie blieben, schlugen bei Freunden oder in Restaurants die Zeit tot oder gingen auf eigene Kosten ins Hotel.
Gleich drei Seniorenheime mit teils sehr betagten Menschen mussten evakuiert werden, 256 Krankenfahrten waren zu absolvieren – über die vielleicht sogar realeren Risiken, die mit diesem Massentransport alter und kranker Menschen verbunden ist, redet merkwürdigerweise niemand.
Nie sind Anwohner verletzt worden, auch früher nicht, als man Entschärfungen noch laxer anging
Was droht eigentlich realistischerweise in der weiteren Umgebung, wenn eine solche Weltkriegsbombe doch einmal explodiert, was im übrigen so gut wie nie vorgekommen ist? Bei keiner Entschärfung in den Jahrzehnten seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind jedenfalls jemals unbeteiligte Anwohner zu Schaden gekommen, nicht mal in früheren Zeiten, als man dabei erheblich laxer vorgegangen ist. Für jene Erlebnisgeneration, die in Kellern und Bunkern das Abwerfen von Bombenteppichen auf Essen überlebt hat, war so ein Blindgänger ohnehin kaum der Rede wert. In den 1960er oder 1970er Jahren wäre es unvorstellbar gewesen, dafür nächtelang ganze Stadtteile zu entvölkern.
Sicher, solche Wurschtigkeit kann heute vielleicht kein Vorbild mehr sein. Aber etwas mehr gelassenen Menschenverstand wünschte man sich manchmal schon.