Essen. Weniger Straftaten, weniger Tatverdächtige durch Corona: Doch tätliche Angriffe auf Beamte werden mehr. Die Hemmschwelle sinkt, warnen Experten.

Auch wenn die Polizei Essen während der Corona-Pandemie binnen eines Jahres über 4000 Straftaten weniger registrierte und die Zahl der Tatverdächtigen um rund 2500 sank, sticht ein beunruhigendes Phänomen aus einer vergleichsweise entspannten Kriminalitäts-Lage heraus: Während alle erfassten Delikte insgesamt ein 30-Jahres-Tief erreichten, kam es zu mehr tätlichen Angriffen auf Vollstreckungsbeamte, Feuerwehrleute und Mitarbeiter von Rettungsdiensten.

Obwohl pandemiebedingt weniger Großveranstaltungen und auch Demonstrationen über die Bühne gehen konnten, Fußballspiele ausfielen und auch sonst deutlich weniger los war auf den Straßen der Stadt, „hat die Gewaltbereitschaft zugenommen“, bestätigte Polizeisprecher Christoph Wickhorst auf Nachfrage. Es habe zwar weniger Widerstandshandlungen ohne physischen Kontakt, jedoch mehr körperliche Übergriffe auf Polizistinnen und Polizisten gegeben.

Gewerkschaft: Ein viel zu hohes Niveau der Gewalt

Von einem insgesamt viel zu hohen Niveau von „Widerstand und tätlichen Angriffen auf Vollstreckungsbeamte und gleichstehende Personen“, wie es im Beamtendeutsch heißt, spricht Heiko Müller, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei in Essen und Mülheim - zumal sich die Negativ-Entwicklung in diesem Jahr noch einmal deutlicher fortzusetzen scheint. Die Hemmschwelle sinkt weiter.

Abgerechnet wird bekanntlich erst am Schluss - doch schon jetzt zeichnet sich eine bedenkliche Tendenz ab: Die Behörde an der Büscherstraße zählte allein in den ersten sechs Monaten diesen Jahres 56 Gewaltausbrüche gegenüber Ordnungshütern und Retter. Im gleichen Zeitraum 2020 waren es mit 40 immerhin noch 16 weniger. Dazu kommen 121 Widerstände, was einen „leichten Rückgang“ von 30 Fällen bedeutet, in denen Beamte genötigt oder bedroht wurden, ohne dass sie körperlich angegangen oder gar verletzt worden sind.

84 tätliche Angriffe binnen eines Jahres

Bereits im Vergleich der kompletten Jahre 2019 und 2020 hatte die Zahl der tätlichen Angriffe in Essen um sieben auf 84 zugelegt, während die der Verweigerungen, einer Anweisung der Staatsmacht Folge zu leisten, von 300 auf 265 Fälle zurückgegangen war. In der Opferstatistik finden sich 596 Polizeivollzugsbeamte, acht Feuerwehrleute und ebenso viele Mitarbeiter von sonstigen Rettungsdiensten wieder. Immerhin liegt die Aufklärungsquote bei 99 Prozent, was sich leicht allein durch die physische Nähe der Angreifer erklären lässt.

Heiko Müller fordert eine konsequente Verfolgung der offenbar zunehmend gewaltbereiteren Täter:„Gerichte müssten das mögliche Strafmaß in vollem Umfang anwenden.“ Dass ein erheblicher Teil der Angreifer in der Regel durch Alkohol- oder Drogeneinfluss enthemmt ist, dürfte allerdings auch eine Erklärung sein, warum die erhoffte präventive Wirkung des seit 2017 geltenden Paragrafen 114 des Strafgesetzbuches offenkundig noch nicht eingetreten ist. Drohten für „tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte“ früher gemeinhin Geldstrafen, sind es nun drei bis fünf Jahre Haft.

Taser sollten schnell eingeführt werden

Ein schneller wirkendes Mittel zur Abschreckung und zum besseren Schutz von Polizistinnen und Polizisten sieht der Essener GdP-Vorsitzende nach wie in sogenannten Distanzelektroimpulsgeräten. „Die Taser müssen möglichst schnell und flächendeckend eingeführt werden“, appelliert Heiko Müller an seinen obersten Dienstherrn in Düsseldorf, Innenminister Herbert Reul.

In einem Lagebild hat das Landeskriminalamt NRW festgestellt, dass sich die zunehmende Gewalt gegen Beamte meist aus vermeintlich ganz alltäglichen Einsätzen wie Verkehrskontrollen oder Ruhestörungen entwickelt. Vor allem an Wochenenden, in den Abend- und Nachtstunden ist das Risiko für die Beamten groß. Die Angreifer sind meist männlich und zwischen 25 und 45 Jahren alt. Laut einer kriminologischen Studie hat etwa die Hälfte der Täter einen Migrationshintergrund, der überwiegende Teil einen deutschen Pass.