Essen. In wenigen Tagen ist jeder zweite in Essen immunisiert. Warum die Statistik lügt – und die Lage trotz Impfstoff-Delle besser ist, als es scheint.

Am Mittwoch haben sie in Messehalle 5 ein großes Kunstwerk aufgehängt: „Better Times Coming“ prangt es da über den eng umschlungen knutschenden Cartoon-Stars Micky und Minnie Maus. Übersetzt heißt das: „Es kommen bessere Zeiten“. Davon sind vermutlich jene, die sich hier gegen das Coronavirus impfen lassen, besonders überzeugt: 176.409 waren schon da, 83.613 sogar schon ein zweites Mal, und zusammen mit den 96.380 Erstimpfungen bei den Hausärzten rückt Essen der Impfquote von 50 Prozent täglich näher. Schon am Wochenende könnte es so weit sein.

Halbzeit also?

Viel mehr als das, glaubt Dr. Stefan Steinmetz, der manchmal schier verzweifeln könnte an der Impf-Bürokratie und den oft leeren Versprechungen über wahre Impfstoff-Wellen, die dann als dünne Rinnsale ins Impfzentrum schwappen. Und doch sieht der Ärztliche Leiter des Essener Impfzentrums die Impfkampagne weiter fortgeschritten, als es die offiziellen Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein glauben lassen. Weil er die graue Impfquoten-Theorie mit der alltäglichen Praxis und Erfahrung abgleicht und dabei zu dem Schluss kommt: „Wenn wir am Ende eine Impfquote von 75 Prozent schaffen, dann sind wir schon ganz schön gut.“

Im Städtevergleich ein Platz im guten Mittelfeld

Mit seiner Impfquote von aktuell 46,8 Prozent liegt Essen im guten Mittelfeld der Städte aus dem Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein.

Am besten schneiden nach den jüngsten Zahlen von Freitagmittag Bonn und Mülheim an der Ruhr mit einer Quote von jeweils bereits 53,8 Prozent ab. Im Ruhrgebiet liegt Essen vor Oberhausen (46,6 %) und Duisburg (43,3 %).

Die Quote der zweimal und damit vollständig geimpften Personen liegt in Essen bei 18,1 Prozent. Düsseldorf kommt auf 19,6 %, Bonn sogar auf 22,1 %.

„Mal sehen, ob wir dann auch wie in den USA Lose ausgeben müssen“

Denn Steinmetz mutmaßt, dass mit der schrittweisen Rückkehr ins „alte Leben“ auch die Bereitschaft der noch nicht geimpften Bürger deutlich erlahmt, sich eine Impfung verpassen zu lassen. Dies zumal, wenn sie – zuletzt im Falle von BioNTech – immer wieder mal für Negativ-Schlagzeilen sorgt. „Mal sehen, ob wir dann auch wie in den USA Lose ausgeben müssen“, so Steinmetz, damit die lahmende Impfbereitschaft neuen Schwung erhält.

Wenn aber etwa in Essen nur 75 oder 80 Prozent der Bürger sich impfen lassen wollen, dann läge die erreichbare Marke irgendwo zwischen 437.000 und 466.000, sofern man die Essener Einwohnerzahl aus der offiziellen Landesstatistik zugrunde legt: Mit deren Wert von 582.760 Personen rechnen auch das NRW-Gesundheitsministerium und das Robert-Koch-Institut bei den ermittelten 7-Tage-Inzidenzen.

Plötzlich eine wunderbare Impfstoff-Vermehrung? Nein, eine Datenpanne

Mit 272.789 Erstimpfungen ist also schon viel erreicht, zumal ja über 25.000 Corona-Infizierte hinzuzuzählen sind. Denn auch sie benötigen durch die gebildeten Antikörper nur noch eine Zweitimpfung. Umso mehr staunten viele in den sozialen Netzwerken, als die KV Nordrhein am Mittwochnachmittag einen beachtlichen Sprung um allein 27.000 Erstimpfungen vermeldete. Lag da eine wundersame Impfstoffvermehrung zugrunde? Nein, die gute Nachricht, sie entpuppte sich als banale Datenpanne, die am Freitag prompt wieder korrigiert wurde.

„Es kommen bessere Zeiten“, verspricht das überdimensionale Kunstwerk von Dennis Klapschus, das von einer Baustelle des Projektentwicklers Kölbl Kruse in die Messehalle 5 umzog.
„Es kommen bessere Zeiten“, verspricht das überdimensionale Kunstwerk von Dennis Klapschus, das von einer Baustelle des Projektentwicklers Kölbl Kruse in die Messehalle 5 umzog. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Denn so schnell geht’s dann doch nicht: Impfstoff ist in diesen Juni-Tagen so knapp, dass im Impfzentrum an der Messe abseits weniger seit langem festgezurrter Termine kein Erstimpfungen mehr erfolgen dürfen. Zeitweise drohte sogar ein Verbot, die abendlichen Impfstoff-Reste als Erstimpfungen zu verabreichen. Ein neuer Erlass befreite die Ärzte gottlob aus der misslichen Lage, das kostbare Vakzin womöglich in den Ausguss zu schütten: „Sonst hätte ich mich mal wieder darüber hinwegsetzen müssen“, knurrt der ärztliche Impfzentrums-Chef Dr. Stefan Steinmetz.

Kinder impfen? „Ich sehe nicht, dass sie medizinisch davon profitieren“

Seine bisher geübte Großzügigkeit aber ist passé: „Anderthalb Augen zudrücken“, wie Steinmetz es nennt, und mal eben einen Pflegepatienten ambulant mitzuimpfen, so etwas ist derzeit nicht mehr möglich. Immerhin könnten die Hausärzte noch Erstimpfungen durchführen, und ab kommender Woche steigen auch die Betriebsärzte in die Kampagne ein. Deren Impfstoff-Vorrat liegt allerdings weit unter den Bestellungen, „einige hundert Impfungen“ werde man aber wohl absolvieren können, signalisiert etwa Evonik – anderen Unternehmen dürfte es ähnlich gehen.

Bei allen Versuchen, die Impfquote voranzutreiben – dass die Ständige Impfkommission die Kinder-Impfungen eher skeptisch sieht, löst bei Steinmetz Erleichterung aus: „Ich bin ein sehr impffreudiger Arzt“, sagt der erfahrene Mediziner, „aber ich sehe nicht, dass die Kinder medizinisch profitieren“. Und zu impfen, nur damit andere schneller alte Freiheiten genießen können, dazu sei ihm das Risiko zu groß. Den Impfwunsch von (nicht vorerkrankten) Kindern abweisen darf und würde er nicht, sagt Steinmetz.

Aber die Formulare um eine Anmerkung ergänzen: „gegen meinen ausdrücklichen Rat“.