Essen. In Hermann Schmidt-Rahmers Netz-Version von „Früchte des Zorns“ findet der Horror einer Flucht in der Vorstellung statt. Eine Betrachtung.
Rund 80 Millionen Menschen waren laut UN-Flüchtlingswerk 2020 weltweit auf der Flucht. Krieg, Verfolgung und zunehmend Naturkatastrophen aufgrund von Umweltzerstörung sind Gründe, diesen schweren Weg zu gehen. Genau da setzt Hermann Schmidt-Rahmer mit seiner für den Stream verfilmten Bühnenfassung von John Steinbecks Jahrhundertwerk „Früchte des Zorns“ an.
Bilder von Dürre und Überflutung begleiten die Großfamilie Joad von ihrer vertrockneten Farm in Oklahoma ins gelobte Land Kalifornien, wo sie statt Orangen Hass ernten. Jetzt war der Stream erstmals im Netz abrufbar.
Flucht hat sich wie eine Alptraum in die Köpfe gesetzt
Der Blick fällt in die Räume eines hellen, aufgeräumten Hauses mit wohlsituierten, orangehaarigen Menschen. Kein Elendsszenario. Aber unheilvolle, flirrende Musik. Der Hunger, von dem die Mutter spricht, ist nicht zu sehen, und auch nicht der Dreck, der von dem Weg gen Westen auf ihrer Haut klebt. Die Flucht hat sich wie ein Alptraum in und auf ihren Köpfen festgesetzt. Es ist, als erinnere sie mit der Familie die Ereignisse von einst. Angst macht sich in den Einstellungen breit, keimt zwischen den Erzählungen von Hoffnung, Anfeindungen und Wut auf.
Wie in der Bühnenaufführung legt Schmidt-Rahmer den Fokus auf die Vereinzelung der Figuren. Der Zusammenhalt der Familie zerbricht. Einige bleiben auf der Strecke. Jeder muss mit seinem Schmerz allein klarkommen. Zugleich verkörpern die Schauspieler auch die Gegner in der Gesellschaft. Eine großartige Ensembleleistung offenbart sich von Silvia Weiskopfs starker Mutter über Alexey Ekimovs gewaltbereitem Sohn Tom bis hin zu Jan Pröhls resignierendem Vater.
Im Chat können Zuschauerinnen und Zuschauer kommentieren
Nahaufnahmen ziehen in diese Gefühlswelt hinein, die in krassen Wechseln mit hintersinnigen Naturaufnahmen auf Bildschirmen zu sehen ist. Doch der Blick bleibt gelenkt, Bezüge zu ausgewilderten Tieren, die sich neu in eine Gemeinschaft einfügen müssen, drängen sich auf. Das stört keinen der Zuschauerinnen und Zuschauer.
Manchen törnen die schnellen Schnitte ab, wie im Chat zum Stream zu lesen ist. Ganz unmittelbar kann hier jeder spontan kurze Bewertungen oder abschließende Meinungen kundtun. Und die ist aufs analoge Theatererlebnis gerichtet. Ab Herbst ist die Inszenierung von Hermann Schmidt-Rahmer auf der Bühne des Grillo-Theaters zu sehen. Ziel erreicht. Ein gelungener Vorgeschmack auf die kommende Schauspielsaison.
„Früchte des Zorns“ ist noch am 30. Mai sowie am 6., 11. und 18. Juni, ab 19 Uhr, auf www.dringeblieben.de kostenfrei als Stream abrufbar.