Essen. Mehrfach haben Aktivisten der radikalen Organisation „Extinction Rebellion“ in letzter Zeit Autofahrer blockiert. Viele Fragen: Ist das erlaubt?

Wer demonstriert will auffallen und im Idealfall Menschen erreichen, deren Handeln man als problematisch erachtet. Insofern ist das so genannte „Swarming“ das neue Mittel der Wahl für Umweltgruppen wie „Extinction Rebellion“, die den Autoverkehr für ein klimapolitisches Grundübel halten. Schon fünf Mal sind die Essener Aktivisten der international agierenden Organisation in diesem Jahr „ausgeschwärmt“ und haben in Abstimmung mit der Polizei vielbefahrene Kreuzungen blockiert, was Autofahrer zu einer unfreiwilligen Pause zwang. Die Frage, die sich empörte Betroffene stellen: Dürfen die das?

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Sie dürfen, sagt die Essener Polizei. „Die Aktionsform ,Swarming’, so wie sie bisher in Essen und anderen Städten in der Umgebung stattgefunden hat, steht unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit“, beschreibt Sprecher Thomas Weise nach Rücksprache mit den polizeieigenen Fachleuten die Sachlage. Das Demonstrationsrecht im öffentlichen Raum sei juristisch ein derart hohes Gut, dass es das Recht auf individuelle Bewegungsfreiheit übertreffe, sofern die Blockade nur kurze Zeit andauere. „Die Fortbewegungsfreiheit Dritter und die Leichtigkeit des Verkehrs hat daher zurückzustehen“, so Weise. Was „kurze Zeit“ genau bedeutet, muss dann von der Polizei als Genehmigungsbehörde abgewogen werden.

Gegner der Blockaden fordern die Polizei zum Durchgreifen auf

Recht ist durchaus nichts Statisches, sondern auch zeitgeistabhängig: Manches, was vor 30, 40 Jahren noch undenkbar war, ist heute akzeptiert – und umgekehrt. Damit mag sich allerdings nicht jeder abfinden. „Hier sollen ideologische Ziele, die – wie man an der Reaktion der Leute sehen konnte – keine große Zustimmung finden, von ganz wenigen Egoisten auf Kosten anderer mit Gewalt durchgesetzt werden“, schreibt Leserin Martina Uhls, die am Rüttenscheider Stern Zeugin einer Blockade-Aktion von „Extinction Rebellion“ wurde. „Die Polizei, die zwischendurch kurz eine Durchfahrt ermöglichte, um den langen Stau wenigstens etwas abzubauen, sollte das so nicht zulassen“, fordert Uhls und steht damit stellvertretend für einige Meinungsäußerungen dieser Art, die die Redaktion erreichten.

Das vermeintliche „Nichtstun“ der Polizei gegenüber Regelbrechern ist Kernbeschwerde von Autofahrern, die sich genötigt sehen zu warten, obwohl eine Grün-Phase nach der anderen verstreicht. Wenn die Polizei Verletzungen der Straßenverkehrsordnung bei Autofahrern hart ahndet, müsse sie doch umgekehrt auch die Rechte, die diese gewährt, durchsetzen. Doch dem steht eben das im Zweifel höhere Gut des friedlich ausgeübten Demonstrationsrechts entgegen.

Ende März in Rüttenscheid: Eine Einzelaktivistin setzt sich auf die Straße bis die Polizei kommt. Auf ihrem Schild steht: „Ich habe Angst, dass in zehn Jahren Wasser und Nahrung knapp werden wegen der Klimakrise“.
Ende März in Rüttenscheid: Eine Einzelaktivistin setzt sich auf die Straße bis die Polizei kommt. Auf ihrem Schild steht: „Ich habe Angst, dass in zehn Jahren Wasser und Nahrung knapp werden wegen der Klimakrise“. © F.S.

Polizei: Kurzfristige Behinderungen sind keine gewaltsame Nötigung

Doch was, wenn Autofahrer die Friedfertigkeit bezweifeln und die Blockaden durchaus als gewaltsam empfinden? „Hierfür reicht im vorliegenden Fall die Intensität des Blockierens nicht aus“, betont die Essener Polizei. Kurzfristige Behinderungen seien keine gewaltsame Nötigung. Schon aus diesem Grund verbietet es sich, etwa mit der Stärke des Autos zu versuchen, die Blockade zu durchbrechen und Demonstranten zur Seite zu schieben, wie das am vorvergangenen Wochenende bei einem „Swarming“ in Steele geschah. Den Autofahrer erwartet folglich wohl eine harte Strafe.

Torsten Leukert, Sprecher von „Extinction Rebellion“ in Essen, beteuert, man wolle mit den Blockaden niemanden provozieren und es sei auch nicht das Ziel, „ein großes Verkehrschaos anzurichten“. Daher respektiere man die Anweisung der Polizei, zwischen den mehrminütigen Blockaden von Kreuzungen immer wieder längere Phase zu lassen, in denen der Verkehr fließen kann. Die Reaktionen seien sehr gemischt. „Es gibt Aggressionen, es gibt aber auch Beifall und Leute, die spontan beschließen, sich uns anzuschließen.“

Einzelaktivisten blockieren schon mal ohne jede Genehmigung die Straße – „aus Verzweiflung“

Neben den polizeilich angemeldeten Aktionen gibt es bei „Extinction Rebellion“ allerdings auch Mitglieder, die „als Einzelpersonen ihre Angst auf die Straße tragen“, wie Leukert es ausdrückt – und das eben ohne jede Genehmigung. In Rüttenscheid sah das vor einigen Wochen so aus, dass sich eine Frau mit Plakaten, einem so genannten „Sandwichboard“, auf den Rechtsabbieger von der Zweigert- in die Rüttenscheider Straße setzte und den Verkehr staute. Erst die eintreffende Polizei konnte sie mittels Gesprächen zum Abbruch der Aktion animieren.

„Rebellion of one“ heißt das im Jargon der Organisation, die keinerlei Probleme damit hat, ganz im Gegenteil: Es wird ausdrücklich auf der Webseite dafür geworben mit einem Argument, das eine Art Selbstermächtigung zum Rechtsbruch unterstreicht: „Verzweifelte Zeiten verlangen verzweifelte Maßnahmen.“ Das Risiko, von der Polizei belangt zu werden, sei im Übrigen gering, heißt es. „Die ersten Erfahrungen machen Hoffnung, dass mit keinen oder geringen Repressionen zu rechnen ist.“ Am 15. Mai plant „Extinction Rebellion“ die nächste Aktion mit Einzelkämpfern, auch in Essen.

Selbstermächtigung zum „zivilen Ungehorsam“

„Extinction Rebellion“ heißt soviel wie „Rebellion gegen das Aussterben“, und gemeint sind damit nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern mindestens langfristig auch die Menschheit. Auf Basis dieser Befürchtung, vorgetragen in der entsprechenden Tonlage, sieht sich die Organisation ermächtigt, zivilen Ungehorsam zu propagieren und damit Gesetzesverstöße in Kauf zu nehmen, um ihre Ziele zu erreichen.

Die Essener Ortsgruppe bringt bei ihren angemeldeten Blockade-Aktionen nach eigenen Angabe rund 20 bis 30 Aktivisten auf die Straße. Ziel ist es, diese monatlich stattfinden zu lassen – plus unangemeldete Aktionen von Einzelkämpfern.