Essen. Nach vielen Monaten Schul-Ausfall stehen bald die Abi-Prüfungen an. Viele Kandidaten fürchten dauerhafte Nachteile.
Manche Essener Abiturienten fühlen sich in der Corona-Zwickmühle: Die Prüfungen beginnen am Freitag, 23. April. Einerseits haben viele den Eindruck, durch die monatelangen Schulschließungen sehr viel Stoff verpasst zu haben – doch ein Aussetzen der Prüfungen wäre auch nicht hilfreich: „Dann bekäme unser Abi einen schlechten Ruf und könnte im Vergleich zum Abi der anderen Jahrgänge als nicht vollwertig gelten“, befürchtet zum Beispiel Joe (18), der ans Helmholtz-Gymnasium in Rüttenscheid geht.
Nach dem Ende der Osterferien gehören die künftigen Abiturienten zu den wenigen Schülern, die wieder in den Unterricht dürfen – für die meisten anderen gilt noch mindestens diese Woche „Distanzlernen“ von zu Hause. Vor Wochen hatte die Schulministerin angekündigt, dass die Abiprüfungen um neun Tage nach hinten verschoben werden – deshalb gibt es seit dieser Woche Sonder-Unterricht für die Abschluss-Jahrgänge. Die Abiturienten werden speziell auf die Prüfungen vorbereitet, heißt es. Dass die Benotung wohlwollend ausfällt wegen der Umstände, ist nicht zu erwarten.
Abiturienten fürchten Stigmatisierung
11.15 Uhr am Montag, Rüttenscheid, Rosastraße: Tim (18) und Joe kommen aus dem Unterricht. „Ich glaube eigentlich fast, dass wir Vorteile haben, wenn wir gut durchs Abi kommen“, mutmaßt Tim. „Dass wir das Abi trotz der widrigen Umstände geschafft haben, könnte man uns auch als Stärke auslegen.“ Doch sein Mitschüler Joe ist ganz anderer Meinung: „Ich befürchte, dass es später von uns heißen wird: Das ist der Abi-Jahrgang, der nichts gelernt hat, weil so viel Schule ausgefallen ist.“
Vor einem Jahr, als Corona den ersten Abi-Jahrgang vor völlig neue Herausforderungen stellte, gab es eine laute, flächendeckende Diskussion um einen möglichen Ausfall der Prüfungen. Die Abi-Noten sollten allein ermittelt werden aus den Noten, die die Schüler in den beiden Schuljahren bis dahin angesammelt hatten. Doch der Vorschlag setzte sich nicht durch. Entsprechend folgenlos verhallt ist die Debatte, auch wenn Schülerin Elena (18) anmerkt: „Natürlich haben wir total viel Stoff verpasst. Ich habe mir jetzt Extra-Abi-Lern-Lektüre besorgt. Es gab sehr viele Themen, die im Abi drankommen, und die wir höchstens für uns im Home-Schooling üben konnten, aber nie richtig besprochen haben.“ Eine Mitschülerin pflichtet ihr bei: „Viele Themen, die in den Prüfungen behandelt werden, haben wir höchstens angeschnitten.“
Gesamtschul-Leiterin: Lockdown benachteiligt sozial Schwache
Es ist nicht nur der Stoff-Ausfall, der viele Beteiligte zur Überzeugung kommen lässt, die Abiturienten dieses Jahrgangs seien benachteiligt. „Der Lockdown wird ins Private verschoben, die Kinder aus sozial schwachen Familien haben das Nachsehen“, findet Julia Gajewski, Leiterin der Gesamtschule Bockmühle in Altendorf. Wer Schulen über Wochen und Monate schließe, ignoriere, dass viele Schüler zu Hause nicht die Möglichkeit haben, den Stoff einigermaßen angemessen zu lernen – sei es, weil zu Hause kein Deutsch gesprochen wird, oder weil Kinder und Jugendliche in beengten Verhältnissen leben ohne eigenen, ruhigen Arbeitsplatz - und auch die technische Ausstattung öffne die soziale Schere weiter, sagt Gajewski.
Abitur 2021
Auf der Internetseite des Schulministeriums steht, dass das Abi-Prüfungsverfahren in diesem Jahr grundsätzlich nicht verändert wird. In einigen Fächern hätten die Schüler jedoch eine Aufgabe mehr zur Auswahl zu Beginn der Prüfung. Außerdem sollten die Lehrer noch mehr als bislang bei der Vor-Auswahl der Aufgaben berücksichtigen, dass die Aufgaben „in besonderem Maße zu dem tatsächlich erteilten Unterricht passen.“
In einigen Fächern entfällt jedoch die Zweit- und Drittkorrektur der Abiklausuren, weil wegen des verspäteten Prüfungsstarts dafür keine Zeit mehr bleibt.
Daran ändere nichts, dass die Stadt rund 17.000 Tablet-Computer angeschafft hat für bedürftige Schüler. „An unserer Schule sind keine 500 Geräte ausgegeben worden“, sagt Julia Gajewski, „wir haben 1400 Schüler. Die meisten der Familien beziehen Sozialleistungen.“
Nicht nur Abiturienten stehen derzeit unter Druck – auch an anderen Schulen sind Schüler in Sorge: Marie, eine Neuntklässlerin, die zur Realschule geht, hat vor dem Ende der Osterferien einen Brief an die Redaktion verfasst. „Ich war in diesem Jahr erst vier Tage in der Schule“, schreibt sie, „wie soll das weitergehen? Ich brauche mein kommendes Zeugnis für die Bewerbungen. „Man geht davon aus, dass man im Home-Schooling genauso gut lernt wie in der Schule auch. Aber so ist das nicht. Besonders fehlt der direkte Kontakt zum Lehrer, falls man was nicht verstanden hat, was oft vorkommt. Man hilft sich oft selbst mit YouTube-Videos.“