Essen. Durch Zufall wurde Walter Ruege 1979 Stadionsprecher bei Rot-Weiss Essen – und blieb es bis heute. Einer der weiß, wann er besser nichts sagt.
„Tor für RWE!“ Gleich vier Mal durfte Walter Ruege dies beim letzten Heimspiel von Rot-Weiss Essen ins Mikrofon rufen. Auch wenn ihm an der Hafenstraße wegen der Corona-Pandemie keine Fans zuhören dürfen, so sorgt er so gut es eben geht für ein wenig Stadionatmosphäre. Seine Stimme ist den treuen Anhängern sowieso vertraut. Denn als Stadionsprecher ist Walter Ruege eine Institution bei RWE.
Walter Ruege hat Spieler und Trainer kommen sehen. Er hat viele unvergessene Siege miterlebt und noch mehr bittere Niederlagen. Dabei hat er fast immer den richtigen Ton getroffen. Und das seit mehr als 40 Jahren.
Heimspiele seiner Rot-Weissen verfolgt Walter Ruege aus der Sprecherkabine unterm Stadiondach in Höhe des Sechzehnmeterraumes vor der Gästetribüne, wo auch Polizei und Rettungskräfte ihren Platz haben. Um das ganze Spielfeld zu sehen, muss Ruege stehen. Denn sein Sichtfeld ist eingeschränkt.
Im Georg-Melches-Stadion war der Sprecher näher dran am Platz und an den Fans
„Im Georg-Melches-Stadion war ich näher dran“, erzählt Walter Ruege und meint nicht nur den Platz. Wenn er sich nicht ganz sicher war, wer da ins Tor getroffen hat, fragte er die Fans, die direkt unter seinem Fenster saßen. Dafür muss er heute nicht fürchten, dass jemand vor Wut die Scheibe einschlägt, was im alten Stadion einmal vorgekommen ist.
Rueges Arbeitsplatz im Stadion Essen hat eben auch seine Vorteile. Die Technik zum Beispiel. Die Musik ist digital. „Als ich angefangen habe, hatten wir noch einen Plattenspieler.“ Den zu bedienen – „das wäre eigentlich meine Aufgabe gewesen“, erinnert sich Walter Ruege an seine erste Saison 1979/80.
Ruege ist damals 22 Jahre jung und schon einige Jahre Mitglied im Verein. Seit er sein erstes Spiel als Elfjähriger im Stadion erlebt hat, ist er glühender RWE-Fan. Zur Hafenstraße fährt er mit dem Fahrrad oder geht zu Fuß. Meistens allein. Ruege wohnt in Frintrop, nicht weit entfernt von der Stadtgrenze. „Meine Freunde waren alle für Rot-Weiß Oberhausen.
RWE-Geschäftsführer Paul Nikelski schickte Walter Ruege in die Sprecherkabine
Ruege hält es mit RWE. Als junger Mann will er sich einbringen und klopft in der Geschäftsstelle an. Geschäftsführer Paul Nikelski schickt ihn beim nächsten Heimspiel in die Sprecherkabine. Der alte Stadionsprecher hatte mit Ende der Saison aufgehört. Ruege soll dem Nachfolger, der die Aufgabe kommissarisch übernommen hat, zur Hand gehen. „Ich habe damals für die Stadt Essen Gästeführungen organisiert und auch schon mal ein Mikrofon in der Hand gehabt. Da dachte Herr Nikelksi wohl, ich wäre in der Sprecherkabine gut aufgehoben.“
Ruege tut, wie ihm geheißen, und ist rechtzeitig vor Spielbeginn im Stadion. Die Sprecherplatz ist noch verwaist. In der Kabine ist ein Techniker zugange, der sich bald verabschiedet. Ruege bleibt allein zurück und wartet, während die Tribünen sich langsam füllen. Doch der Stadionsprecher taucht nicht auf.
Bei seinem ersten Einsatz für RWE gibt es nicht viel anzusagen. Das Spiel endet 0:0
„15 Minuten vor Anpfiff hat dann jemand einen Zettel mit den Mannschaftsaufstellungen reingereicht.“ Ruege zögert. Irgendwann setzt er sich vors Mikrofon und liest die Spielernamen vom Blatt ab. „Natürlich war ich nervös“, erinnert er sich an sein erstes Mal. „Aber viel mehr anzusagen gab es nicht.“ Das Spiel gegen Fortuna Köln endet 0:0. Es sollte bis heute das einzige torlose Unentschieden zwischen beiden Vereinen bleiben.
Als jüngst RWE und die Fortuna aus Köln in der Regionalliga West wieder einmal aufeinandertrafen und Ruege die Statistik der bisherigen Begegnungen vor Augen hatte, musste er an seinen ersten Tag als Stadionsprecher zurückdenken.
„Damals bin ich nach dem Spiel gleich nach Hause“. Um beim nächsten Heimspiel an den Sprecherplatz zurückzukehren. Fortan war Walter Ruege Stadionsprecher bei RWE. Ein Schwarzweißfoto aus diesen Tagen zeigt ihn mit getönter Brille und einem schrillgemusterten Hemd – heute der letzte Schrei in jedem Secondhandladen.
Seine erste Saison endet übrigens mit einem Spiel, das jeder, der dabei war, nie vergessen wird. Auch Walter Ruege nicht. RWE verpasst im Entscheidungsspiel gegen den Karlsruher SC den Aufstieg in die 1. Bundesliga. Die packende Aufholjagd der Essener wird nicht belohnt.
Seine Aufgabe als Stadionsprecher geht Walter Ruege stets seriös an
Die Nervosität von einst ist natürlich verflogen. Walter Ruege erledigt seine Aufgabe längst routiniert und unaufgeregt. Ein Lautsprecher war er nie. Das entspräche nicht seinem Naturell. Bei der Stadt Essen leitet der Kommunalbeamte das Amt für Ratsangelegenheiten und Repräsentation. Genauso seriös geht er seinen ehrenamtlichen Sprecher-Job an. Ruege weiß, wann er etwas sagen muss und wann er besser schweigt.
Einmal habe er versucht eine schlechte Leistung der Rot-Weissen durch einen Kommentar ein wenig ins Positive zu wenden. Ein Fehler. Die Fans reagierten aufgebracht. Am nächsten Morgen stand in der Zeitung: „Nur der Stadionsprecher sah ein gutes Spiel.“ Seitdem hält Ruege den Mund, wenn der Schiedsrichter abgepfiffen hat. Aus den Lautsprechern ertönt dann nach einem Sieg der rot-weiße Evergreen „Adiolé“ oder nach einer Niederlage „100 Jahre...“.
Bekannte Stadionsprecher
Es liegt schon viele Jahre zurück, als Walter Ruege auf Einladung des Deutschen Fußballbundes in Frankfurt seine Kollegen aus der 1. und 2. Bundesliga traf, in der auch RWE seinerzeit spielte. Als Ruege berichtete, dass er ehrenamtlich als Stadionsprecher tätig sei, habe dies für Erstaunen in der Runde gesorgt.Unter aktuellen und ehemaligen Stadionsprechern finden sich viele bekannte Namen wie Werner Hansch, Reiner Calmund (Bayer Leverkusen), Norbert Dickel (Borussia Dortmund), Matthias Opdenhövel (Borussia Mönchengladbach) und Rolf Töpperwien (1. FFC Frankfurt). Auch der 2014 verstorbene deutsche Schauspieler Joachim „Blacky“ Fuchsberger war Stadionsprecher – bei den Olympischen Spielen 1972 in München.
Seit 41 Jahren ist Walter Ruege nun die Stimme von RWE. Im Internet stand einmal zu lesen, er sei der dienstälteste Stadionsprecher, erzählt der inzwischen 64-Jährige. „Aber das stimmt nicht.“ Der Stadionsprecher von Alemannia Aachen bringe es auf ein paar Jahre mehr am Mikro. Den Kollegen hole er nicht mehr ein, Auch wenn er selbst noch längst nicht ans Aufhören denke.
So werden sich Urlaubsreisen und Familienfeste im Hause Ruege weiterhin nach dem Spielplan von RWE richten. Aber seine Frau habe schließlich gewusst, worauf sie sich einlässt. An der Hafenstraße ruft Walter Ruege hoffentlich noch oft: „Tor für RWE!“ Und wer weiß: Vielleicht sind seine Worte diesmal sogar die Begleitmusik für einen Aufstieg – in die dritte Liga. Bei aller gebotenen Zurückhaltung: Walter Ruege hätte nichts dagegen.