Essen. Kein Lebenszeichen: Bianca Blömeke verschwand vor 20 Jahren. Nun hat die Polizei neue Hinweise – und richtet sogar eine Mordkommission ein.
Denkt Erika Schneider an ihre Tochter, hat sie ein fröhliches Mädchen vor Augen. Eine Jugendliche, die sich stets vor Schwächere stellt, für andere stark macht. Manchmal stellt sich die Mutter dann vor, wie Bianca jetzt wohl mit 40 Jahren aussehen würde. Denn sie hat ihre Tochter seit mehr als 20 Jahren nicht mehr gesehen. Bianca Blömeke verschwand am 6. August 2000 nach einem Streit mit ihrem Ex-Freund aus ihrer Wohnung in Vogelheim. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen von ihr. Doch die Essener Polizei hat jetzt so viele neue Ermittlungsansätze, dass sie wieder eine Mordkommission eingerichtet hat.
„Anhand heutiger Untersuchungsmethoden hoffen wir, aktuelle und alte Spuren neu auswerten zu können“, sagt Polizeisprecher Christoph Wickhorst. Ob am Ende der eine Hinweis darunter sein wird, um das Verschwinden aufzuklären, bleibt ungewiss. Diese Hoffnung aber hat Erika Schneider nie aufgegeben.
Die Suche der Mutter führt zum Kanal und auf den Straßenstrich
Jeden Morgen gilt ihr erster Gedanke Bianca, am Abend ist es der letzte. In dieser langen Zeit ist kein einziger Tag vergangen, an dem die Mutter nicht unermüdlich und verzweifelt nach ihr gesucht hat. Zunächst im Umfeld, am Kanal und auf dem Straßenstrich, später im Ausland und ständig im Internet.
Erika Schneider hat Clubs abgeklappert, Flugblätter im Stadtteil verteilt und sich irgendwann selbst verzeihen müssen, dass sie Bianca damals erst vier Tage später als vermisst gemeldet hat. Dann hatte sie wochenlang versucht, die Polizeibeamten auf der Vermisstenstelle davon zu überzeugen, dass ihre Tochter nicht einfach durchbrennt.
Hinweise auf ein Tötungsdelikt
Doch es sollten Monate vergehen, bis im Dezember 2000 schließlich eine Mordkommission ermittelt. Zu diesem Zeitpunkt geht die Polizei nicht mehr von einem Vermisstenfall aus, da sich Hinweise auf ein Tötungsdelikt verdichten. Doch da hat die Großmutter längst bei Bianca aufgeräumt, auch Blut an der Wanne weggewischt, die Wohnung ist schon wieder vermietet, zahlreiche Spuren sind überlagert. Spürhunde schlagen nicht an. Am Wichtigsten, so erklärt es später ein Kriminalhauptkommissar, seien die ersten drei Tage. In Biancas Fall lagen diese lange zurück.
Zum letzten Mal hört Erika Schneider die Stimme ihrer Tochter am 6. August. Sie telefonieren. Sie hört Bianca sagen, dass sie sich nun endgültig von dem Vater ihres Kindes getrennt hat. Dass er Kontakt zu seinem Sohn hält, war ihr wichtig. „Sie selbst hat darunter gelitten, ohne Vater aufgewachsen zu sein“, sagt ihre Mutter. An dem Nachmittag beruhigt Bianca sie, alles sei in Ordnung, sie gehe baden. Ihr Ex-Freund ist damals bei ihr und dem acht Monate alten Baby in der Wohnung. Der ebenfalls 19-Jährige bringt den gemeinsamen Sohn zu Biancas Großmutter ins Nebenhaus, erklärt, sie wollten sich aussprechen.
Nachbarn haben Bianca um ihr Leben flehen hören
Dieses Gespräch eskaliert offenbar. Doch Nachbarn geben erst viel später an, Schreie gehört zu haben. Bianca soll bitterlich geweint, um ihr Leben gefleht haben. Ein Knall, dann Ruhe. Als ihre Mutter telefonisch nur noch den Kindsvater erreicht, wimmelt dieser sie ab, Bianca sei noch im Bad oder eben am Kiosk. Als die Oma abends klingelt, ist die Enkelin nicht mehr da.
Gesehen hat die 19-Jährige seitdem niemand mehr. Sie verschwindet, ohne Handy, ohne Papiere, ohne Geld. Zurück bleiben ihr kleiner Sohn, ihre Oma, ihre Mutter und die vielen Bilder von Bianca an den Wänden ihrer Wohnung. Obwohl der Schmerz Erika Schneider fast zerreißt („in den ersten drei Jahren habe ich Bettlaken vollgeheult“), es zwischenzeitlich gesundheitlich bedrohlich bergab geht, findet sie immer wieder Kraft weiterzumachen. „Bianca hätte das für mich auch getan.“
Mutter glaubt an einen Unfall, der zu der Tragödie führte
Erika Schneider hat sich Nummern von Gräbern auf dem Terrassenfriedhof in Schönebeck notiert, in denen zum Zeitpunkt von Biancas Verschwinden Beerdigungen stattgefunden haben – in dem Wissen, dass ein Verwandter des Ex-Freundes dort arbeitet. Ob ihre Tochter einfach verscharrt wurde, hat sie sich oft gefragt. Der Gedanke daran, dass Bianca möglicherweise nicht gleich tot gewesen sein könnte, dass sie an diesem verregneten Tag im August irgendwo verblutet sein könnte, ist unerträglich.
Dass ihre Tochter noch lebt, hält Erika Schneider nicht mehr für wahrscheinlich. „Ein Prozent Hoffnung vielleicht“, sagt sie leise. Sollte Bianca doch weggelaufen sein, möchte ihre Mutter von Herzen sagen, dass es nichts auf der Welt gibt, das sie ihr nicht verzeiht. „Sie ist doch mein Kind.“ Vielmehr aber glaubt die 59-Jährige, dass ein Unfall hinter der Tragödie steckt, ein Streit, ein Handgemenge vielleicht. Zahllose Male hat sie den Kindsvater angefleht, ihr zu sagen, wo Bianca ist. Der geriet zunächst ins Visier der Ermittler, kam in Untersuchungshaft und wieder frei. Es mangelte an Beweisen.
Biancas Mutter geht immer wieder an die Öffentlichkeit
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Wer auch immer der Täter ist, der ihrer Tochter etwas angetan hat – Wut und Hass sind längst gewichen („das hätte mich zerfressen“). Rachegedanken ebenso. Nicht aber die Unruhe. Die Frage, was mit Bianca geschehen ist, quält sie unaufhörlich, bestimmt das Leben von Mutter und Großmutter. So wendet Erika Schneider sich immer wieder an die Öffentlichkeit, hält Kontakt zur Zeitung, tritt im Fernsehen bei Aktenzeichen XY und in der Talkshow Nachtcafé auf. Wie im Vorjahr, 20 Jahre nach dem Verschwinden ihrer Tochter. Jedes Mal berührt der Fall die Zuschauer – und setzt etwas in Gang.
„Alle Formate haben dazu beigetragen, dass vermehrt Hinweise eingegangen sind“, sagt Christoph Wickhorst. Ob telefonisch, per Mail oder sogar bei ihm persönlich. Zuletzt nach einer Mitteilung, die die Polizei veröffentlicht hat. Die Akte Bianca sei ohnehin nicht geschlossen und so prüft die Polizei jedes kleine Detail, von dem sie erfährt.
Nun könnten vor allem moderne kriminaltechnologische Methoden helfen. DNA könnte dabei eine Rolle spielen, zudem gibt es außer den Schreien weitere Hinweise auf ein Gewaltverbrechen. Mehr dazu sagt die Polizei nicht, auch nicht zum möglichen Nachweis von Blut an der Wanne. Christoph Wickhorst begründet das mit ermittlungstaktischen Gründen.
Eine Spur führte auf den Friedhof
Die Person, die auf dem Friedhof in Schönebeck gearbeitet hat, ist der Polizei bekannt. Die Beamten haben damals auch diese Spur verfolgt. „Jetzt gehen sie aber zunächst anderen, neuen Hinweisen nach“, sagt Christoph Wickhorst. Der Friedhof stehe nicht im Fokus.
An einem Grab dort steht Erika Schneider, erzählt, wie sie versucht hat, sich in den Täter hineinzuversetzen. Sie hat sich vorgestellt, wie er unter Druck Bianca in eines der frisch ausgehobenen Gräber legt. „Die Liegefristen sind nun abgelaufen, vielleicht könnte man doch hier suchen.“
Gleichzeitig klammert sie sich an den Gedanken, dass nun, da Totschlag nicht mehr bestraft werden würde, „vielleicht endlich jemand spricht.“ Gäbe es Mitwisser, dann seien diese doch bestimmt selbst Familienväter, appelliert sie an deren Mitgefühl. „Dem Verantwortlichen vergebe ich“, sagt die Mutter zur Tat. Was sie ihm aber nicht verzeihen kann, sind die 20 Jahre, um die er ihr Leiden verlängert hat. Denn mit dem Tod könnte sie leben – mit der Ungewissheit kann sie das nicht.
Endlich Abschied nehmen können
Und so bleibt das Einzige, das sie umtreibt: „Ich möchte wissen, wo meine Tochter ist und sie dann auch finden.“ Vielleicht wird die Mutter irgendwann erfahren wollen, was passiert ist. Vor allem aber möchte sie ihre Tochter beerdigen, eine Anlaufstelle haben, um endlich trauern zu können. Abschied nehmen. Und dennoch hat sie auch Angst, dass eine der Spuren tatsächlich zu Bianca führen könnte, „denn dann ist es endgültig.“
Bis Erika Schneider eines Tages diese Nachricht erhält, spricht sie weiter mit ihrer Tochter: „Komm’ Bianca, hilf’ mit, damit wir Dich finden.“