Essen. Die Polizei greift auch diesen Essener Fall auf: Den der vermissten Bianca Blömeke. Zurück blieben ihr Baby, ihre Mutter und Oma.
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- Der Fall der vermissten Bianca Blömeke beschäftigt ebenfalls erneut die Essener Polizei, die damals 19-Jährige ist im Jahr 2000 spurlos verschwunden.
- Seitdem sucht ihre Mutter verzweifelt nach ihrer Tochter, die damals ihren kleinen Sohn zurückließ und nach einem Streit mit ihrem Lebensgefährten verschwunden ist.
- Dieser Artikel ist zum ersten Mal am 2020 erschienen, da der Fall nun als Cold Case aufgegriffen wird, veröffentlichen wir ihn aktualisiert erneut.
„Zum 40. Geburtstag alles Gute, Bianca“. Die rote Kerze genau mit diesen Glückwünschen stand damals auf dem Küchentisch – Bianca erreichten diese guten Wünsche nicht. Denn sie verschwand spurlos, einen Monat vor ihrem 20. Geburtstag. Ihre Mutter gratuliert ihr nicht nur Jahr für Jahr, sie sucht auch Tag und Nacht unermüdlich nach ihrer Tochter. Seit fast genau 24 Jahren gibt es jedoch kein Lebenszeichen. Immer noch keine Spur.
Genauso lange lebt ihre Mutter Erika Schneider (59) in schier unerträglicher Ungewissheit und hofft so sehr, irgendwann endlich zu erfahren, was am 6. August 2000 geschehen ist.
Es ist Sonntag. Morgens um fünf Uhr verabschieden sich Mutter und Tochter. Bianca Blömeke fährt im Taxi nach der Schicht in der Kneipe ihrer Mutter nach Hause. „Ich liebe Dich“, rufen sich die beiden noch zu und sehen sich danach nie wieder. Ein letzter Anruf am Sonntagnachmittag, es ist kurz vor drei. Erika Schneider erinnert sich an jedes Wort, ahnt damals nicht, dass sie Biancas Stimme nie mehr hören wird. Wie auch. „Hätte Bianca Hilfe gebraucht, sie hätte es gesagt. Sie ist wie ich, weiß sich zu wehren.“
Bianca Blömeke und der Kindsvater wollen sich aussprechen
Stattdessen erzählt die 19-Jährige, dass ihr Ex-Freund und Vater ihres damals acht Monate alten Kindes nun endgültig der Wohnung fernbleibe. Dass er seinen Sohn sieht, ist ihr aber wichtig, da sie selbst ohne Vater aufwuchs. „Ich gehe baden, es ist alles okay“, sagt Bianca am Telefon.
Viel später erzählen Nachbarn von Schreien der jungen Frau; sie habe um ihr Leben gefleht, berichtet Erika Schneider. Biancas Kind ist zu dem Zeitpunkt bei der Großmutter im Haus nebenan, der Kindsvater hat es hingebracht mit den Worten: „Wir wollen uns aussprechen.“ Als die Großmutter am Sonntagabend klingelt, ist der Ex-Freund allein. Bianca sei eben zur Bude, erklärt er. Die Oma putzt, entdeckt Blut an der Wanne und wischt es weg: Sie denkt an Regelblutung, nicht an eine Tragödie.
Die 19-Jährige verschwindet ohne Papiere, Geld, Handy und ohne ihren Sohn
Doch ihre Enkelin taucht nicht mehr auf, verschwindet ohne Papiere, Geld, Handy – und ohne ihren kleinen Sohn. Von diesem Augenblick an beginnt für ihre Mutter die Suche. Rastlosigkeit, unendlicher Kummer. Es gibt nur den einen Wunsch, die Tochter wiederzufinden, nur noch eine ganz kleine Welt, in der sich alles um Bianca dreht. Ihren Sohn hat das Jugendamt in Obhut genommen.
„In den ersten drei Jahren habe ich Bettlaken vollgeheult“, beschreibt sie ihren Schmerz. Keinen klaren Gedanken kann sie fassen, kaum einen Satz aussprechen. Sie sucht immer weiter, erst im Umfeld, im Stadtteil und auf dem Straßenstrich, in Clubs, mit Flugblättern, schließlich in Österreich und Italien, wo ihre Familie herkommt und wo sie mit Bianca oft gewesen ist. Gleichzeitig fürchtet sie längst. dass ihre Tochter nicht mehr lebt. Und richtet doch eine Internetseite ein, fragt „Wo ist meine Tochter Bianca“, stellt Bilder ein und wartet auf eine Antwort. Sie erträgt dafür, wenn Betrüger („Wir haben Bianca gefunden) oder Erpresser („Wenn Sie 500 Euro zahlen, schicke ich Ihnen ein Bein oder einen Arm“) sich melden.
Mutter vergibt dem Täter und auch sich selbst
Das Ersparte geht im Laufe der Jahre drauf, gesundheitlich geht es ihr immer schlechter. Bei einer Größe von 1,68 m wiegt sie gerade noch 39 Kilogramm. Als sie selbst Hilfe sucht, bekommt sie Tabletten. „Pillen beseitigen doch mein Problem nicht.“ Es braucht Zeit, bis sie anfängt, dem Täter zu verzeihen („Ich gehe von einem Unfall aus“) und schließlich sich selbst, denn lange gibt sie sich eine Teilschuld. „Ich melde mich“, hat sie damals am Telefon zu Bianca gesagt. „Wäre ich doch hingefahren“, denkt sie heute.
Nach dem Verschwinden steuert sie die Polizeiwache sechs Wochen lang täglich an: Vermisstenstelle. „Aber sie haben mich nicht ernst genommen.“ Erst im Dezember wird eine Mordkommission eingerichtet, da ist Biancas Wohnung längst neu vermietet, sind mögliche Spuren verloren. „Der Eigentümer wollte ja die Miete haben, das konnte ich nicht bezahlen“, sagt die Mutter. Die Großmutter aber bleibt in ihrer Wohnung im Haus nebenan in Vogelheim, wo die Familie seit Generationen verwurzelt ist.
Die Großmutter in Essen glaubt fest daran, dass die Enkelin lebt
Als Bianca nicht mehr da ist, fällt es Erika Schneider schwer, ihre eigene Mutter zu besuchen. Doch die Großmutter hält an der Wohnung fest: „Was ist, wenn Bianca zurückkommt“, lautet ihre Sorge, in diesem Augenblick nicht da zu sein. Sie glaubt unerschütterlich daran, dass die Enkelin noch lebt. Glaubt immer dann, wenn das Telefon klingelt, es könnte Bianca sein. Heute wohnen Mutter und Großmutter in einem Haus, Tür an Tür. Vom Balkon schaut Erika Schneider nun auf Biancas frühere Wohnung. Manchmal falle ihr das schwer, aber nah sei sie ihrer Tochter sowieso immer.
„Natürlich wünsche ich mir nichts mehr, als dass sie lebt“, sagt sie leise, schränkt diese Hoffnung aber zugleich ein. Ein Prozent ist nach 20 Jahren geblieben. „Sie wäre ja nicht die Erste, die irgendwo weggesperrt ist, wenn sie nur nicht misshandelt wird.“ Im Internet hat sie von zahllosen Vermisstenfällen gelesen, jeden Morgen sucht sie nach Funden von unbekannten Leichen, von Skeletten oder Kleidungsstücken. Was Bianca am Tag ihres Verschwindens trug, weiß sie nicht, aber es fehlten blaue Turnschuhe aus Wildleder in der Wohnung. „Und ich kenne Biancas Kleider.“
Ein gefundener Schädel im Kanal in Recklinghausen beschäftigt Biancas Mutter
Als ein Schädel in Recklinghausen im Kanal auftaucht, schickt die Mutter sämtliche Profilbilder ihrer Tochter an die Ermittler. Es ist nicht Bianca. Ob sie das Ergebnis erleichtert oder enttäuscht – sie zögert. „Eigentlich kann es nur eine Erlösung sein. Denn mit dem Tod kann man leben, ohne Abschied nicht.“
Ohne ihre Arbeit ist inzwischen ihre Tagesstruktur weggebrochen. Doch Schulterprobleme machten den harten Job in der Altenpflege unmöglich. Nun bedeutet der Alltag, sich morgens aus dem Bett zu kämpfen. „Ich kümmere mich um meine Wohnung, gehe einkaufen, fahre meine Mutter zum Arzt.“
Die Erinnerungen und schönen Augenblicke mit Bianca bleiben für Familie unvergessen
Immer freitags packt sie bei der Tafel an, sie engagiert sich als Wahlhelferin, verbringt den Sommer im Schrebergarten („im Unkraut kann ich abschalten“). Es gibt Freunde wie das Ehepaar, das mit ihr lacht und weint. Es bleibt die Erinnerung an schöne Augenblicke mit Bianca. An das kleine Mädchen, das den Brief ohne Briefmarke in den Postkasten wirft, weil es lieber Bonbons am Kiosk kauft.
Jetzt naht die dunkle Jahreszeit, in der auf der Parzelle nichts zu tun sein wird. Die meiste Zeit aber verbringt Erika Schneider Zuhause, das so viele Bilder von Bianca schmücken. Als Kommunionkind, als Schülerin mit den rötlichen Haaren, die sie sich später blond färbt – wie auf dem Bild, das eine Woche vor ihrem Verschwinden entsteht. Bianca lächelt fast immer, ein fröhliches Mädchen, aus dem eine selbstbewusste junge Frau wird. Die unterbricht ihre Ausbildung, als sie schwanger wird. „Sie war stets für andere da, war sozial und hat sich vor Schwächere gestellt“, beschreibt ihre Mutter und blickt mit Tränen auf die Geburtstagskerze.
Täter könnte sich melden, da Totschlag nach 20 Jahren verjährt
Erika Schneider hegt auch eine neue Hoffnung: Da nach 20 Jahren Totschlag verjährt, könnte der Täter sich melden – und ihrer Qual ein Ende bereiten. Jedes Mal, wenn die Mutter in die Öffentlichkeit geht, soll das dem Täter zeigen: „Ich bin noch da.“ Gleichzeitig bittet sie um Hinweise, sei es ein Zettel in ihren Briefkasten. An Rache und Strafe denkt sie nicht mehr, das ist vorbei. „Ich will nur wissen, was passiert ist, um endlich aus dieser Endlosschleife herauszukommen“, sagt sie und stellt sich vor, Bianca steht eines Tages vor ihrer Tür. „Komm zurück“, möchte sie ihr zurufen.
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Dann gibt es wieder Situationen, in denen ihr all das, ihr ganzes Leben, nicht real erscheint. „Der Zusammenbruch kommt, wenn das alles vorbei ist“, fürchtet sie. Woher sie bis dahin ihre unfassbare Kraft nimmt, manchmal weiß sie es selbst nicht. Und dann klingt die Erklärung so einfach wie traurig: „So bin ich. Es ist doch mein Kind. Bianca würde das Gleiche für mich tun.“
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