Essen-Holsterhausen. Der Essener Schiedsmann Bernhard Kinne hat viele Streits geschlichtet, jetzt geht er in den Ruhestand und zieht eine eher ernüchternde Bilanz.

Sie werfen sich unsägliche Schimpfwörter an den Kopf oder strecken den Mittelfinger bei zufälligen Treffen im Hausflur, Handgreiflichkeiten nicht ausgeschlossen. Wenn Streithähne richtig in Fahrt geraten, gibt es oft kein Halten mehr. Mit solchen Gemütern hatte es Bernhard Kinne 20 Jahre lang zu tun. Nun geht der Schiedsmann, inzwischen 76 Jahre alt, in den Ruhestand. Kompromisse zu finden sei zwar schwieriger geworden, habe ihm sein Engagement aber nicht verleidet.

Essener Schiedsmann ist im Sternzeichen der Waage geboren

Hier einen Zwist beenden wollen, dort Erzfeinde versöhnen, die mal engste Freunde waren und das alles nur, damit Gerichte weniger Arbeit haben oder sich nicht mit Bagatellen herumplagen müssen: Warum nimmt man eine solche Belastung auf sich? Vielleicht liege es am Sternzeichen, in dem er geboren sei, sagt er schmunzelnd. „Das ist nun mal die Waage.“ Im wirklichen Leben hat er stets mit Recht und Gesetz zu tun gehabt. Der gelernte Rechtsanwalts- und Notargehilfe war für Kanzleien und Unternehmen tätig und hatte lange Zeit das Amt des ehrenamtlichen Richters inne. Als vor zwei Jahrzehnten die Schiedsmannstelle vakant wurde, meldete er sich. Streitigkeiten zu schlichten sei sicherlich eine Herausforderung, sagt er, doch durch Beruf und Ehrenamt brachte der gebürtige Lipperländer nicht nur Wissen mit, sondern auch Menschenkenntnis. Wobei noch einiges an Erfahrungen und Erlebnissen dazukommen sollte, wie er munter erzählt.

Schriftliche Vereinbarung ist für Parteien bindend

Ein Schiedsmann wird erst dann tätig, wenn sich jemand schriftlich an ihn wendet und den Fall schildert. Er kümmert sich um Fälle aus dem Zivilrecht (z.B. Grundstücksfragen, Lärmbelästigung, Mietprobleme) und dem Strafrecht (z.B. Beleidigungen). Nicht zuständig ist er für Erb- und Familienrecht.

In rund 60 Prozent der Fälle gelingt den Schiedsmännern eine gütliche Einigung. Dann unterschreiben die Parteien eine Vereinbarung, woran sie sich künftig zu halten haben. Kommt diese nicht zustande, kann der Fall vor Gericht landen.

Bernhard Kinne hatte pro Monat ein bis zwei Fälle, insgesamt waren es rund 340.

Sein Bezirk umfasst die Stadtteile Fulerum, Haarzopf, Margarethenhöhe, Frohnhausen-Süd und Holsterhausen.

Mit Blumenkübel das frisch gestrichene Nachbarhaus beworfen

Prompt hat er zwei Hausbesitzer vor Augen, die derart im Clinch lagen, dass der eine das Haus des anderen mit einem Blumenkübel bewarf. Dumm gelaufen, möchte man sagen. Denn der andere Eigentümer hatte gerade sein Schmuckkästchen frisch streichen und verputzen lassen. Das Mauerwerk war gleich doppelt lädiert, nicht nur farblich, auch der Putz bröckelte. Als Kinne von einem der zwei angeschrieben wurde mit der Bitte, seines Amtes zu walten, passierte bei dem Schlichtungstermin das, was man auch bei kleinen Kindern gern mal erlebt: Der Beschuldigte sagte keinen Ton, nachdem ihn sein Nachbar mit den Vorwürfen konfrontiert hatte. „Ein solcher Fall landet dann eigentlich vor Gericht, eine gültige Einigung kam nicht zustande.“ Dieses Mal war es anders, kurz darauf beauftragte der mutmaßliche Verursacher seine Versicherung, die Angelegenheit zu prüfen. „Damit war die Sache vom Tisch.“ Später habe er nichts mehr davon gehört.

Bernhard Kinne, hier mit seiner Ehefrau Helma, war jahrelang als ehrenamtlicher Richter im Einsatz.
Bernhard Kinne, hier mit seiner Ehefrau Helma, war jahrelang als ehrenamtlicher Richter im Einsatz. © FUNKE Foto Services | Christof Köpsel

Dass großes Schweigen herrschen kann, erlebt Kinne immer wieder und kann sich noch gut an einen bemerkenswerten Auftritt eines Mannes erinnern. „Der klingelte, zeigte mir seinen Ausweis und meinte, damit sei alles erledigt. Da musste ich ihm aber sagen, dass erst dann, wenn der angesetzte Termin von mir eröffnet ist, er seiner Verpflichtung nachkommt.“ Der Mann sei dann doch geblieben, aber wohl nur, weil ansonsten rechtliche Konsequenzen gedroht hätten.

Fernsehreife Momente spielten sich vor Kinnes Augen ab

Kaum zum Reden bekam er anfangs auch zwei Frauen, die früher einmal allerbeste Freundinnen waren, bis wohl die eine begann, bei Bekannten und Freunden über die andere herzuziehen. Üble Nachrede, heißt das im Juristendeutsch. Wie so oft, ließ sich der Ausgangspunkt des Zoffs nicht mehr wirklich ausmachen. Als das Duo vor Kinne saß, waren mittlerweile Jahre seit dem letzten nicht-beleidigenden Wort vergangen. Der Schiedsmann wandte nun einen Kniff an, indem er recht zügig auf die guten alten Zeiten zu sprechen kam. Was sich danach abspielte, war schon fast fernsehreif: Die beiden gaben sich nicht nur die Hand, sie umarmten sich. Solche Momente seien auch für ihn berührend.

Nachbarn mit ganz unterschiedlichen Gartenvorlieben

Wenn sich Grundstücke berühren, können wiederum Konflikte vorprogrammiert sein: Der Essener weiß noch sehr genau von der Geschichte aus einer beschaulichen und friedlich wirkenden Einfamilienhaussiedlung zu berichten. Der Nachbar links vom Zaun hatte die freien Flächen seines ansehnlichen Grundstücks komplett mit Rasen eingesät, den er wie seinen Augapfel hütete und jeden Grashalm pflegte. Der Nachbar zur Rechten wiederum liebte Bäume über alles, pflanzte, was das Zeug hielt und sein Grund und Boden an Platz hergab.

Auf Einzelheiten der Verwerfungen zwischen den beiden Familien will Kinne gar nicht mehr eingehen. Schriftlich wurde später festgehalten, dass der Baumfreund doch bitte im Herbst zwei Mal die Woche Laub aufsammelt, damit nicht Mengen an Blättern den Nachbarn zum Rasen bringen. Und es wurde vereinbart, die Bäume regelmäßig zu schneiden, wobei Kinne bei einem Klassiker angelangt ist: Die Höhe von Hecken bringt Nachbarn gern in Wallung. Wenn es ihm dann gelingt, dass sich die Familien wieder grün sind, „dann habe ich auch durchaus meine Freunde daran“. Das habe er auch geschafft, als sich Väter in die Wolle geraten waren, die ihren streitenden Kindern auf dem Spielplatz zur Seite stehen wollten. Die Kleinen hatten deutlich früher ihren Zoff beigelegt.

Das Schild „Schiedsamt“ ist nun abmontiert

In den vergangenen Jahren allerdings beobachtet er, dass sich Streithähne seltener auf einen Kompromiss oder eine einvernehmliche Lösung einlassen. Die Entwicklung habe schon weit vor Corona eingesetzt, in der Pandemie mit Lockdown und massiven Belastungen bestehe natürlich die Gefahr, dass die Nerven erst recht blank liegen würden.

Kinne hat nun Abschied von seinem Amt genommen, das Schild „Schiedsamt“ ist abmontiert. Die Frage, ob er sich noch für eine weitere Amtsperiode zur Verfügung stellen soll, klärt das Gesetz. Danach sollte er in seinem Alter aufhören. Und wenn sich nicht ein Schiedsmann an Recht und Gesetz hält, wer dann?