Essen. Eine Polizeikontrolle läuft aus dem Ruder. Die Richterin kritisiert das Vorgehen der Essener Beamten und warnt vor „amerikanischen Verhältnissen“

Die Ermittlungen zu einem mutmaßlichen rechten Netzwerk haben das Essener Präsidium erschüttert und den Ruf der Polizei erheblich ramponiert. In einer aktuellen Strafsache, die im Januar vor dem Amtsgericht Essen verhandelt worden ist, kommt die Polizei ebenfalls schlecht weg. Es geht um mutmaßliche Polizeigewalt. Hier das Protokoll eines Polizeieinsatzes, der aus dem Ruder gelaufen ist, vor Gericht landet und mit dem Tadel der Richterin endet wegen „massiver Übergriffe der Polizeibeamten“.

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Es ist der 20. Dezember 2019, vier Tage vor Heiligabend, nachts um 2.45 Uhr. Ein mit drei Männern besetzter Pkw gerät auf der Gladbecker Straße in eine Polizeikontrolle von Gruga 11 – eigentlich eine Routine-Angelegenheit. Zwei der Insassen, die später wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“ angeklagt werden, sind anscheinend gut gelaunt unterwegs. Die Polizisten wiederum kommen kurz angebunden und dünnhäutig rüber. Es handelt sich um Beamte, die ihren Dienst in der Polizeiinspektion (PI) Mitte versehen.

Im Hintergrund sind Schreie zu hören: „Ich kriege keine Luft mehr, ich kriege keine Luft mehr“

Bei der Kontrolle der Fahrzeugpapiere bleibt es nicht: Ein Beifahrer muss auf Aufforderung aussteigen. Der zweite kommt hinterher und hört Schreie.
Bei der Kontrolle der Fahrzeugpapiere bleibt es nicht: Ein Beifahrer muss auf Aufforderung aussteigen. Der zweite kommt hinterher und hört Schreie. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

So ärgern sich die Insassen darüber, dass der Polizeibeamte sich nicht vorgestellt, sondern bloß ruppig gefragt habe: Wo kommt Ihr her, wo fahrt Ihr hin? Der Polizist, seinerseits genervt, bittet einen der beiden Angeklagten, den Beifahrer K. (37) aus Gelsenkirchen, auszusteigen. Daraufhin fängt dieser an, den Polizeieinsatz mit dem Handy zu filmen. Ob er zum Schlag auf die Polizisten ausholt, wie diese behaupten, bleibt in der Hauptverhandlung unklar. Fest steht: K., von Beruf Manager, landet auf dem Boden und wird von den Beamten fixiert.

Was den Polizisten offenbar entgeht: Das Handy eines Fahrzeuginsassen wird den Wortlaut des Einsatzes von nun an detailliert aufzeichnen. Der Beifahrer C. (30), der zweite Angeklagte, steigt aus und mischt sich nun ein. Auf der Handyaufnahme ist offenbar deutlich zu hören, wie er immer wieder schreit: „Die hauen auf ihn ein.“ Im Hintergrund schreit unterdessen K.: „Ich kriege keine Luft mehr, ich kriege keine Luft mehr.“

C., groß und von stattlicher Erscheinung, empört sich gegenüber weiteren Polizisten darüber, dass zwei ihrer Kollegen seinen Freund angeblich treten und mit dem Ellenbogen traktieren. Worauf einer erwidert haben soll: Wenn er sich benehme wie eine offene Hose, dann sei das eben so.

Polizist setzt gegen schwarzen Bundeswehrsoldaten Pfefferspray ein und ruft: „Weg, weg, weg“

Zwei weitere Personen werden Zeugen des Geschehens: H., der Fahrer des gestoppten Pkw, und eine Freundin von K., die man in Essen treffen wollte und die nun zum Ort des Geschehens nahe der Shell-Tankstelle am Straßenstrich geeilt ist. Zeuge H. wird in der Vernehmung zu Protokoll geben, dass die Polizisten auf seinen bewegungslos auf dem Boden liegenden Kumpel K. eingetreten und ihn geboxt hätten. Die Frau bestätigt dies und ergänzt, dass ein weiterer Polizist auf ihm gesessen und K. schreiend um Luft gerungen habe. Entsetzt über die Brutalität der Polizei soll die Zeugin mehrfach in Tränen ausgebrochen sein.

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Der 30 Jahre alte C. gibt an, sich bewusst passiv verhalten zu haben. Als Bundeswehrsoldat müsse er befürchten, seinen Job zu verlieren, falls seine Vorgesetzten beispielsweise erführen, er habe Widerstand gegen Polizisten geleistet.

Polizist droht: „Ich brech’ dir den Scheißarm, du Wichser“

Der Polizist behauptet auf mehrfache Rückfragen der Richterin, C. habe sich trotz dreimaliger Aufforderung geweigert, die Hände aus den Taschen seiner Winterjacke zu nehmen. Schließlich soll der Beamte C. eine Ladung Pfefferspray verpasst und seine Kollegen zuvor laut gewarnt haben mit den Worten „Weg, weg, weg“. Laut Audio-Aufnahme habe der Polizist wörtlich gedroht: „Die scheiß Hände auf den Rücken, ich brech dir den Scheißarm, du Wichser.“

Pfefferspray (Symbolbild) macht Angreifer schnell kampfunfähig.
Pfefferspray (Symbolbild) macht Angreifer schnell kampfunfähig. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Die Beteuerung des Polizisten in der Hauptverhandlung, er habe C. drei Mal aufgefordert, die Hände auf den Rücken zu nehmen, wird durch die Tonaufnahme nicht bestätigt. Wenn das stimmt, hätte der Polizist im Gerichtssaal eine Falschaussage gemacht. Deutlich sei auf der Tonaufnahme ein anderer Polizist zu vernehmen gewesen mit der brutalen Drohung an C.: „Kommt ein Ding und ich schlage dir dein Genick ein.“

Richterin betont: „Wir haben hier noch keine amerikanischen Verhältnisse“

Die Polizisten fertigen später Anzeigen gegen K. und C. wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“ an. Die Staatsanwaltschaft fordert sechs Monate auf Bewährung, doch die resolute Richterin spricht die Angeklagten frei. Beide hätten sich keinesfalls gewehrt. Stattdessen rügt sie scharf das Vorgehen der Polizisten, deren Diensthandlungen „nicht rechtmäßig“ gewesen seien.

Margrit Lichtinghagen hatte 2008 als Staatsanwältin bundesweit für Aufsehen gesorgt, als sie vor laufenden Fernsehkameras den damaligen Chef der Deutschen Post, den Top-Manager Klaus Zumwinkel, festnahm. Seit 2009 ist sie Richterin beim Amtsgericht Essen.

Die Essener Amtsrichterin tadelt die ihrer Ansicht nach „massiven Übergriffe“ der Polizei und sagt im Gerichtssaal: „Wir haben hier doch keine amerikanischen Verhältnisse.“
Die Essener Amtsrichterin tadelt die ihrer Ansicht nach „massiven Übergriffe“ der Polizei und sagt im Gerichtssaal: „Wir haben hier doch keine amerikanischen Verhältnisse.“ © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

In der Urteilsbegründung geht Lichtinghagen die Polizisten hart an. Angeklagte zu duzen und sie als Wichser zu titulieren, mit Pfefferspray zu attackieren und ihnen zu drohen, das Genick zu brechen, sei ein nicht hinnehmbarer Übergriff. Die Richterin prangert im Gerichtssaal die „Gewalt der Polizei“ an und sagt wörtlich: „Wir haben hier noch keine amerikanischen Verhältnisse.“

Rechtsanwalt bestätigt Strafanzeige wegen „Körperverletzung im Amt“ gegen Polizisten

Die Staatsanwaltschaft Essen erklärt auf Anfrage, dass sie – trotz der Schlappe vor dem Amtsgericht – in Berufung gegangen sei. Sollte dem Antrag stattgegeben werden, wäre im nächsten Schritt das Landgericht am Zuge.

Die Essener Polizei verweist auf Anfrage auf laufende Verfahren und äußert sich deshalb nicht.

Die Rechtsanwälte der beiden Freigesprochenen bestätigen auf Anfrage, dass ihre Mandanten die Polizeibeamten angezeigt hätten wegen „Körperverletzung im Amte“. Weitere mutmaßliche Straftatbestände wie Nötigung, Beleidigung, Falschaussage und falsche Verdächtigung könnten hinzu kommen.