Essen. Sie haben verschiedene Nationalitäten und Religionen, doch zum Weihnachtsessen sitzen sie an einem Tisch: Die Jungen der Essener Wohngruppe Anker

Sie sind keine Familie, aber ein Haushalt und so werden sie zu neunt beim gemeinsamen Weihnachtsessen zusammensitzen: Umar (16), Maurice (17), Timon (18) und sechs andere Jugendliche, die derzeit in der Wohngruppe Anker in Essen-Frohnhausen leben.

Vier von ihnen stammen aus Indien, Syrien und Afghanistan und haben in ihrem Leben vor der Flucht mit Weihnachten nichts zu tun gehabt. Jetzt begleitet sie ein Adventskalender durch den Dezember: kulturelle Vermittlung mit Süßigkeiten. Andersherum funktioniere das übrigens auch: „Wir begehen auch muslimische Feiertage, zum Beispiel das Zuckerfest“, sagt Sozialarbeiter Andreas Hauch, der die Wohngruppe leitet.

Das etwas andere Weihnachtsessen: Grillabend mit Feuerkorb

Einige der Jungen und jungen Männer wohnen hier, weil sie ohne ihre Eltern nach Deutschland gekommen sind. Die anderen, weil sie aktuell besser ohne ihre Eltern klarkommen. Und sie doch vermissen. Darum wird das weihnachtliche Grillen mit Feuerkorb auf der Terrasse am 23. Dezember stattfinden: Heiligabend verbringen viele der Jungen in ihren Familien.

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„Ich feiere bei meiner Mutter“, sagt etwa Timon, der auch schon weiß, dass er eine E-Zigarette bekommen wird, damit er sich das Rauchen abgewöhnen kann. Es ist nicht sein einziger Vorsatz für das neue Jahr. Außerdem möchte der 18-Jährige auch in die „Verselbstständigungsgruppe“, das ist die Vorstufe für den Umzug in die eigene Wohnung.

Das Essensgeld gab Timon lieber für Klamotten aus

Timon kennt sich aus: Er hat war schon einmal in der Verselbstständigung und musste einen Schritt zurückgehen, „weil das ein bisschen schief gelaufen ist“. Timon hat nicht regelmäßig gegessen, denn das Essensgeld hat er lieber für andere Dinge ausgegeben: Klamotten, Playstation-Zubehör. Dinge, die auch anderen Jugendlichen wichtig sind, bloß sollte Timon ja lernen, auf sich selbst aufzupassen. Darum ist er seit Februar in der Wohngruppe Anker.

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Er ist ein freundlicher Jugendlicher, der offen über seine Laufbahn im Erziehungshilfesystem erzählt, die damit begann, „dass ich zu Hause Stress hatte“. Manches ist ihm trotzdem gelungen, so hat er einen Realschulabschluss gemacht und ein Praktikum bei einem Tischler, der ihn gern übernommen hätte. Ihm gefällt die Arbeit mit Holz, er hat sich selbst ein Bett gebaut. Doch wegen des Streits in der Familie sei er nicht arbeitsfähig gewesen.

In der Wohngruppe hat Maurice endlich Privatsphäre

Stattdessen steuerte Timon das Fachabi an, aber seit vier Wochen geht er auch nicht mehr zur Schule. Er überlege nun doch, eine Ausbildung zu suchen, das Rumsitzen in der Schule sei nichts für ihn. Die Erzieher und Sozialarbeiter der Wohngruppe begleiten Jugendliche wie Timon auch auf ihren Umwegen.

Oft helfe schon die zeitweilige Trennung von der Familie, um sie zu sich kommen zu lassen. „Dass ich hier ein eigenes Zimmer habe“, fällt zum Beispiel Maurice (17) als erster Vorteil der WG ein. Er habe sich zwar daran gewöhnen müssen, mit so vielen anderen Jugendlichen zusammenzuleben. Aber zu Hause habe er immer mit einem seiner Geschwister ein Zimmer geteilt: „Hier habe ich Privatsphäre.“

Wegen „Problemen in der Familie“ ist Maurice im April 2019 in die Wohngruppe gezogen, was die Lage offenbar entspannte. Jetzt jedenfalls freut auch er sich auf Weihnachten mit der Familie. Und seine Wünsche für 2021? „Wenn Corona vorbei ist, möchte ich mit meinem Opa in Urlaub fahren.“ Mit seinem Großvater habe er täglich Kontakt, besuche ihn jedes Wochenende.

Umars Familie ist in alle Himmelsrichtungen verteilt

Von einer solchen Nähe zu seiner Familie kann Umar nur träumen: Seine Eltern hängen in der Türkei fest, ein Bruder lebt in Sachsen-Anhalt, der andere am Möhnesee. Bei einer Tante, die in Essen wohnt, konnte der 16-Jährige aus Syrien mangels Platz nicht bleiben. Nun ist die Wohngruppe Familienersatz auf Zeit: „Und ich lerne hier besser Deutsch als am Berufskolleg.“ Schließlich hat er Tag und Nacht deutsche Jugendliche um sich. Wenn alles gut läuft, macht Umar einen Realschulabschluss und dann eine Ausbildung zum Zahntechniker. Erstmal aber wünscht er sich: „Ich möchte meine ganze Familie treffen.“

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