Essen-Bergerhausen. Magdalene Merkel kämpft für ein gleichberechtigtes Miteinander von Menschen mit und ohne Handicap. Dafür erhielt sie jetzt den Rheinlandtaler.
Im Einsatz für Menschen mit Behinderung: Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) hat Magdalene Merkel (62) vom Integrationsmodell für ihr jahrzehntelanges Engagement um die Inklusion mit dem Rheinlandtaler ausgezeichnet. Die Verleihung fand im Forum für integrative Kultur auf der Billebrinkhöhe in Essen-Bergerhausen statt, das Merkel leitet. Ihr Engagement hat einen persönlichen Hintergrund.
Ursprünglich hat die Essenerin Schulmusik und evangelische Theologie studiert, mit dem Ziel, Lehrerin zu werden. Ein zusätzliches Studium der Kirchenmusik brachte ihr den Job als Kirchenmusikerin an der Pauluskirche in Huttrop ein. Den Beruf habe sie ausgeübt, bis ihr erster Sohn geboren wurde. Er leidet unter Hydrozephalus, einer krankhaften Erweiterung der Gehirnkammern, umgangssprachlich Wasserkopf genannt. „Durch die Betreuung meines Sohnes war ich dann 22 Jahre lang Hausfrau“, blickt die Mutter von vier Kindern zurück.
Der Sohn ist heute 32 Jahre alt und lebt in einer Wohngemeinschaft
Ihr Sohn Jonathan habe die Krankheit in einer mittleren Ausprägung. Er könne laufen, sprechen und lesen, speichere Informationen sehr gut ab. Inzwischen sei er 32 und lebe in einer Wohngemeinschaft des Integrationsmodells, arbeite täglich drei Stunden in der Montage bei der Gesellschaft für soziale Dienstleistungen (GSE).
Oberbürgermeister Kufen sprach seinen Dank aus
„Inklusion ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen. Wir wollen eine Gesellschaft, in der Menschen mit Handicap in allen Lebensbereichen anerkannt und aktiv integriert werden. Hier ist viel in den vergangenen Jahren erreicht worden. Aber wir sind noch lange nicht am Ziel“, so Oberbürgermeister Thomas Kufen bei der Verleihung des Rheinlandtalers an Magdalene Merkel.
Kufen dankte Magdalene Merkel, dass sie die Menschen in Essen zusammenbringe und mit viel Zeit und Energie die Situation von Bürgern entscheidend verbessert habe. „Sie haben es hinbekommen, unsere Essener Stadtgesellschaft weiter zu öffnen für ein Miteinander aller – für mehr Gemeinsamkeit von Menschen mit und ohne Handicap.“
„Er hat rund 30 Operationen hinter sich, ihm geht es soweit gut, er ist nur nicht sehr belastbar, wird schnell müde. Es ist eine Art unsichtbare Behinderung“, erklärt die Mutter. Manchmal antworte ihr Sohn sofort, manchmal mit großer Verzögerung, je nachdem, wie ausgeprägt der Druck auf das Gehirn gerade sei. Die Krankheit Hydrozephalus gebe es in ganz unterschiedlicher Ausprägung. „Bei einigen merkt man gar nichts, andere sind schwerst mehrfach behindert.“
Die Kirchenmusikerin leitete lange eine Selbsthilfe-Gruppe
Ihr Sohn sei in einigen Dingen eingeschränkt, verfüge aber über ein besonderes Speichervolumen, wie es Magdalene Merkel nennt. „Gerade im Bereich Musik ist das erstaunlich. Er hat das komplette Werk von Bach präsent, weiß alles über Verzeichnisnummern, Besetzung und Texte“, erklärt sie. Er könne kein Instrument spielen, sich aber selbst mit dem Notenlesen beschäftigt, so wie er auch schon vor der Einschulung habe lesen können.
Nach der Geburt ihres Sohnes habe sie zehn Jahre lang eine Selbsthilfe-Gruppe geleitet und dabei engen Kontakt zu Ärzten und Therapeuten gepflegt – mit dem Ziel, ihrem Sohn und anderen Betroffenen ein möglichst gutes Leben zu ermöglichen.
Durch den Konfirmanden-Unterricht entstand die Idee zur Wohngemeinschaft
Die Tatsache, dass Jonathan den Konfirmanden-Unterricht, organisiert vom Behindertenreferat der evangelischen Kirche, auf der Billebrinkhöhe besucht habe, veränderte einiges im Leben der Familie Merkel. „Das war eine tolle Zeit. Die Jugendlichen waren in der Pubertät, es gab Probleme zu Hause und in der Schule – aber nicht beim Konfirmanden-Unterricht, wo sie ehrenamtlich 1:1 betreut wurden und sich sehr gut verstanden haben“, erinnert sich Magdalene Merkel.
Damals sei die Idee entstanden, dass die Jugendlichen später vielleicht zusammen wohnen könnten. Und so sei es tatsächlich gekommen. Nach siebenjähriger intensiver Vorarbeit, nach zahlreichen Treffen der Eltern und Kinder, habe man die Wohngemeinschaft tatsächlich realisieren können, in einem Haus, das das Integrationsmodell mit Hilfe von Spendengeldern kaufen konnte. „Wir, die betroffenen Eltern, waren uns sicher, dass wir uns gemeinsam etwas trauen können, was wir allein nicht tun würden“, spricht Magdalene Merkel die Schwierigkeit an, ein erwachsenes Kind mit Behinderung loslassen zu können.
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Krankenschwester übernahm die Leitung der Wohngemeinschaft
Eine Krankenschwester aus dem Kreis habe sich bereit erklärt, die Leitung der Wohngemeinschaft zu übernehmen, ein Team von Mitarbeitern gewährleiste die 24-Stunden-Betreuung der sieben Bewohner. „Bis auf einen Wechsel sind sie noch in der Konstellation zusammen, die damals am Konfirmanden-Unterricht teilnahm“, sagt Magdalene Merkel.
Der Auszug Jonathans in die Wohngemeinschaft sei zeitlich mit dem Tod ihrer an Demenz erkrankten Mutter zusammengefallen, die bis zum Ende von der Familie zu Hause gepflegt worden sei. „Ich konnte da nicht mehr in den Schuldienst oder die Kirchenmusik zurück, habe mich initiativ beim Integrationsmodell beworben, wo man mir eine Stelle zum Ausbau der Ehrenamtsarbeit angeboten und mir dabei viele Freiheiten gelassen hat“, blickt die 62-Jährige zurück.
Kulturarbeit auf der Billebrinkhöhe gebündelt
„Wichtig ist, dass Ehrenamtliche nicht das tun, was gerade gebraucht wird, sondern etwas, was ihnen Spaß macht und bei dem sie mit dem Herzen dabei sind“, ist sie überzeugt. Die ehrenamtliche Arbeit sei jetzt im Forum Billebrinkhöhe verankert, nachdem das Integrationsmodell die frühere evangelische Kirche im vergangenen Jahr übernommen und dort die Kulturarbeit gebündelt habe.
Die Gruppe der Ehrenamtlichen sei schnell gewachsen. Aber: „Es kann nicht sein, dass ein Haus wie die Billebrinkhöhe keinerlei öffentliche Fördergelder erhält und das Integrationsmodell für Unterhaltung, Strom, Heizung, Versicherungen und so weiter allein zuständig ist. Inklusion hat keine Lobby“, ärgert sich Magdalene Merkel. Einzig für Projekte könne man Fördergelder beantragen.
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Gerade deshalb freue sie sich, dass die Verleihung des Rheinlandtalers mit 1000 Euro verbunden sei, die jetzt dem Haus zugute kämen, „Inklusionsarbeit braucht einen festen, verlässlichen Ort wie die Billebrinkhöhe und darf nicht auf Spenden angewiesen sein“, sagt sie. Alle Angebote seien bis auf den symbolischen, freiwilligen Bille-Taler (ein Euro) kostenlos. Unter Corona-Bedingungen sei nur noch ein Bruchteil der sonstigen Besucher zugelassen – was das Spendenaufkommen noch einmal verringere.