Essen. Nach dem Familiendrama in Solingen müsse es darum gehen, solche Taten zukünftig zu verhindern, mahnt ein Essener Arzt. Meist gebe es Alarmsignale.
Wieder ist es passiert: Nicht vorhersehbar und unbemerkt tötet eine Mutter fünf ihrer sechs Kinder und versucht anschließend, sich selbst umzubringen. Ein „erweiterter Suizid“: Vater oder Mutter töten eigene Kinder und wollen dann sich selbst das Leben nehmen. Entsetzt und traurig reagieren Menschen auf diese für die meisten unbegreifliche Tat.
„Wie viele enttäuschte Hoffnungen lasteten auf dieser Mutter?“
„Unvorhersehbar – ist das so?“, fragt der Essener Kinder- und Jugendarzt Ulrich Kohns. Berichten zum Solinger Fall sei zu entnehmen, dass die junge Mutter mit 16 ihr erstes Kind bekommen habe, mit 27 hatte sie sechs. Zu dieser Herausforderung kamen Partnerwechsel und wirtschaftliche Nöte. „Wie viele enttäuschte Hoffnungen hat die Mutter über Jahre ertragen? Wie viele Belastungen lagen auf ihr?“, fragt Kohns. Welche Rolle hätten psychische Probleme wie emotionale Instabilität oder Depressivität in ihrem Alltag und als Auslöser der Tat gespielt?
Es dürfe nicht beim Versuch bleiben, für solche Taten im Nachhinein Schuldige zu suchen. Wichtiger sei es zu beantworten, wie erweiterte Suizide verhindert werden könnten, mahnt Kohns. So heiße es nun, dass die Familie unauffällig gewesen sei. „Eine solche Unauffälligkeit beruht oft auf sozialem Rückzug mit dem Versuch, sozial keine Aufmerksamkeit zu riskieren.“ Betroffene duckten sich weg, um die Gefahr zu bannen, dass das Jugendamt einschreitet, dass sie womöglich ihre Kinder verlieren – und damit „das kleine Glück, das in liebevollen Beziehungen zwischen Mutter und Kindern dennoch erlebt werden kann“.
Die Familien ziehen sich zurück – und bleiben mit ihren Problemen allein
Ihre Unauffälligkeit ermögliche den Familien einerseits, sich als fähig anzusehen, belastende Lebenssituationen zu meistern. Andererseits sei sie belastend, weil die Familien ganz allein mit den extrem schwierigen Bedingungen klarkommen müssten. „Familien wie die der Solinger Mutter gehören zu den Hochrisikogruppen für Vernachlässigung und Gewalt an Kindern in der Gesellschaft – auch wegen ihrer Unauffälligkeit“, resümiert Kohns.
Statt nur nach der Mitschuld von Behörden und Gesellschaft zu fragen, empfehle er, den Blick nach vorn zu richten: „Was kann jeder Mitbürger, Nachbar oder Angehöriger dazu beitragen, Familien mit hohem Risiko zu erkennen und zu entlasten?“ Wie könnten Einrichtungen solche Hochrisikofamilien besser erreichen? „Diese entsetzliche Tat muss für jeden und jede Institution Anlass sein, die eigene Wahrnehmung zu schärfen, auch ,stille’ Risiken zu erkennen und die richtigen Schritte zu tun, dass Unauffälligkeit nicht zur Falltreppe in den Tod wird.“