Essen. Mehr als 3000 Essener haben im vergangenen Jahr die Kirche verlassen. Eine schmerzliche Entwicklung, auf die man Antworten finden müsse.
Die Zahl der Kirchenaustritte hat auch in Essen einen Höchststand erreicht: 1850 Katholiken und 1482 Protestanten traten im vergangenen Jahr aus der Kirche aus. Mit Sorge beobachten die Verantwortlichen, dass sich offenbar auch viele derjenigen abwenden, die formal in der Kirche verbleiben: So ging auch die Zahl der Taufen, Trauungen und Bestattungen zurück.
Wer austritt, bekommt Post von seinem Pfarrer
„Wir müssen als Kirche wieder neu lernen, Menschen mit Gott in Berührung zu bringen“, sagt Stadtdechant Jürgen Schmidt, der die noch 187.637 Katholiken in Essen im Blick hat. Seit einigen Jahren erhalte daher jeder, der der Kirche den Rücken zuwendet, einen persönlichen Brief von seinem Pfarrer. Darin drücke dieser Bedauern über die Entscheidung aus und biete an, im Gespräch zu bleiben. „Mich bewegt, dass wir darauf mehr und mehr Antworten bekommen, in denen die Menschen ihre Beweggründe sehr reflektiert schildern.“https://cms.cloud.funkedigital.de/webservice/thumbnail/article/228345055
In einigen Fällen komme es auch zu einem Treffen – ein weiterer Beleg, dass die Betroffenen nicht leichtfertig von ihrer Kirche Abschied genommen haben. Schmidt sieht Briefe wie Treffen zum einen als Chance zu signalisieren, dass die Tür zu Kirche immer offen sei. „Zum anderen sollten wir uns fragen, was wir von den Menschen, die uns verlassen, lernen können.“
Der Umgang mit den Missbrauchsfällen gilt als verbreiteter Austrittsgrund
Ob lokale Diskussionen wie um den geplanten Abriss von St. Johann Baptist die Zahl der Austritte messbar beeinflussen, könne er anhand der stadtweiten Zahlen nicht ablesen. Allgemein zeige sich in Essen der „große Trend“, wie er auch bundes- und bistumsweit zu beobachten sei. Generalvikar Klaus Pfeffer habe treffend benannt, dass die Diskussion um den Umgang mit den Missbrauchsfällen in der Kirche ein verbreiteter Austrittsgrund sei.
Für die verbleibenden Katholiken biete das auch die Chance, zusammenzurücken und lebendigere Gemeinschaften zu schaffen, folgert Pfeffer. Heute sei niemand mehr „automatisch katholisch“, wer in der Kirche bleibe, tue dies aus Überzeugung. Trotz der rückläufigen Zahlen gebe es auch ein Interesse an den Sakramenten, ergänzt Stadtdechant Schmidt. So würden einzelne Kirchen gern für Trauungen angefragt, so sei es vielen Eltern weiter ein Bedürfnis, ihr Kind zu taufen.
Für diejenigen, denen eine Taufe zu verbindlich sei, böten katholische wie evangelische Kirche seit einiger Zeit Segensfeiern für Neugeborene an, ergänzt Stefan Koppelmann, Sprecher der evangelischen Kirche in Essen, die 133.376 Mitglieder zählt. „Das kommt sehr gut an. Und so wird ganz ohne Verpflichtung und Festlegung auf eine Konfession ein erstes Band zur Kirche geknüpft.“ Solche Neuerungen zu wagen, Angebote an diejenigen zu machen, die sich eine modernere Liturgie wünschen, ohne gleichzeitig die treuen Gottesdienstbesucher zu verprellen, sei ein ständiges Ringen und Abwägen, sagt Koppelmann.
Der Anteil der Gottesdienstbesucher verharrt übrigens auf niedrigem Niveau: So gehen bistumsweit etwa acht Prozent der Katholiken am Sonntag in die Kirche. Als das coronabedingt nicht möglich war, hätten viele Gläubige bemerkt, wie sehr ihnen die Gemeinschaft fehle, sagt Stadtdechant Schmidt.
Die hohen Austrittszahlen seien sehr schmerzlich
Gleichzeitig habe die Kirche in der Corona-Krise gezeigt, dass sie für die Menschen da sei, habe Nachbarschaftshilfe organisiert, Senioren beiseite gestanden, ergänzt Stefan Koppelmann. „In Notzeiten besinnen wir uns auf unseren diakonischen Kern: Wir helfen und handeln.“ Vielleicht müsse man das noch stärker betonen. Die Austrittszahlen einfach hinzunehmen, sei jedenfalls keine Option: „Die sind für uns sehr schmerzlich.“