Essen. Persönliche Enttäuschungen sind für einen Kirchenaustritt oft ausschlaggebender als große Skandale. Das besagt eine Studie mit 3000 Teilnehmern.

  • Bei einer Online-Befragung des Bistums haben 3000 Teilnehmer Auskunft über ihr Verhältnis zur Kirche gegeben
  • 15 Prozent der Studien-Teilnehmer sind bereits aus der Kirche ausgetreten. Skandale und Steuern sind nur letzte Anlässe
  • Der endültigen Abkehr von der Kirche gehe eine längere Entfremdung voran, sagt ein beteiligter Wissenschaftler

Manchmal ist es ein Skandal wie der Bau des prunkvollen Bischofshauses in Limburg, manchmal ist geht es um die Steuern, wie zuletzt 2014, als allein in Essen 3654 Gläubige die Kirchen verließen, davon 1873 Katholiken. Als Erklärung für Rekord-Austrittszahlen mögen solche Ereignisse genügen. Wieso aber verabschieden sich auch in ruhigen Jahren zahlreiche Katholiken aus der Kirche? Das Bistum legt jetzt erste Ergebnisse einer groß angelegten Studie dazu vor. Demnach gehe es nicht nur um Geld, sondern oft um „Entfremdung“ und „fehlende Bindung“.

So formuliert es der Religionspädagoge Ulrich Riegel von der Uni Siegen, der als einer der beteiligten Forscher vom Bistums-Magazin Bene interviewt wurde. Die Kirche werde von vielen der Ausgetretenen als „Institution erlebt, die aus Machtinteressen und Ränkespielen besteht“. Sie werde als unglaubwürdig wahrgenommen, weil „die Botschaften und das Verhalten von Kirchenvertretern auseinanderlaufen“. Eine solche Abkehr entwickle sich längerfristig, die „Kirchensteuer oder ein konkretes persönliches Ereignis“ seien dann nur noch der Anlass für den Austritt.

„Unsere Seelsorger stehen unter großem Druck“

Besonders wo es um Lebenskrisen gehe, werde aus der Entfremdung oft eine schwerwiegende Enttäuschung, sagt Riegel. „Wie bei der Mutter, deren Kind vor der Taufe verstarb und wo der Pfarrer in der Trauerbegleitung versagte.“ In einer Institution, die Barmherzigkeit zu ihrem Markenkern zählt, scheint ein solches Versagen kaum verzeihlich zu sein. Doch Thomas Rünker, der das Projekt „Für den Verbleib in der Kirche“ leitet, wirbt um Verständnis: „Unsere hauptberuflichen Seelsorger stehen unter einem großen Druck, weil sie einerseits verschiedene Orte bespielen müssen und sich andererseits einer hohen seelsorgerischen Erwartung der Gläubigen gegenüber sehen.“

Das Bedürfnis, beim Pfarrer Anteilnahme zu finden, sollte beantwortet werden, so Rünker: „Gerade in Krisensituationen wie einem Trauerfall ist diese Erwartung menschlich sehr nachvollziehbar, da die Betroffenen besonders verletzlich sind. Aber auch bei schönen Ereignissen – etwa einer Hochzeit – haben die Menschen heute sehr individuelle Ansprüche an die Kirche. Wollen wir die Menschen an uns binden, müssen wir uns diese Ansprüche bewusst machen.“

Kirchenmitglieder machen ein Kosten-Nutzen-Kalkül

Ulrich Riegel spricht von einem „Kosten-Nutzen-Kalkül“: Da werde die schöne Trauung als positiv verbucht, die lieblose Firmvorbereitung „ohne Glaubensfreude“ lasse einen Vater aber folgern: „Das reicht, jetzt ist Schluss.“ Solche Erfahrungen seien oft ausschlaggebender für den Austritt als Reizthemen wie Zölibat, Frauenbild oder Umgang mit Homosexualität, die als Beleg für eine nicht mehr zeitgemäße Kirche herhalten müssen.

Als Erfolg wertet Thomas Rünker, dass bei der Befragung jetzt auch Ex-Katholiken ihr Verhältnis zur Kirche schilderten. „Es hat uns erstaunt, dass in einem Zeitraum von nur sechs Wochen mehr als 3000 Menschen an unserer Online-Befragung teilgenommen haben – darunter 15 Prozent, die die Kirche bereits verlassen haben.“

Bistum macht den Gläubigen neue Angebote

Auf der Tatsache, dass die Austrittszahlen zuletzt zurückgingen, will sich Rünkers Team nicht ausruhen. Im vergangenen Jahr verließen 1171 Katholiken in Essen die Kirche, 2015 waren es noch 1411. Die Gründe dafür will man weiter erforschen, gleichzeitig geht man auf Wünsche der Gläubigen ein, etwa mit Segnungsgottesdiensten für Neugeborene: „Die Taufe ist der Beginn einer im besten Fall lebenslangen Beziehung mit Jesus. Und es gibt gute Gründe, sich erstmal zu überlegen, ob man sein Kind taufen lassen will. Die Segnungsgottesdienste sind ein niederschwelliges Angebot für alle Eltern.“

Auch Paaren, die nicht in ihrer Heimatgemeinde heiraten möchten, kommt man entgegen: „Bisher ist es kompliziert, die Heirat in der Wunschkirche zu organisieren. Das wollen wir erleichtern, darum bauen wir ein Team auf, das die Brautpaare hierzu berät und konkrete Hilfestellung leistet.“ Bei solchen Feiern habe die Kirche eine Monopolstellung, mit der sie punkten könne, sagt Riegel. Als Theologe frage er auch: „Bis zu welchem Punkt kann ich mich anpassen, ohne meine eigene Idee zu verraten?“

>>> ZITATE VON GLÄUBIGEN AUF FACEBOOK

Hintergründe zu der Studie des Bistums finden sich auf: www.bistum.ruhr/austrittsstudie. Einige der Antworten, warum Menschen die Kirche verlassen bzw. warum sie in der Kirche bleiben, finden sich auf der Facebook-Seite des Bistums Essen.

„In meiner Gemeinde fühle ich mich mit meinem Glauben gut aufgehoben und unterstützt“, lobt da eine junge Essenerin, während ein bereits ausgetretener Katholik sagt: „Die Kirche hat meine Lebenswirklichkeit und Spiritualität nicht berührt.“