Essen. Zur Überraschung der Initiatoren des Radentscheides stellt sich auch die CDU-Fraktion hinter das Bürgerbegehren. Aus Überzeugung oder aus Kalkül?

Es ist wie bei den großen Klassikern des Radsports: Plötzlich schert einer aus aus dem Peloton und rollt das Feld von hinten auf. Einer, den die Experten gar nicht auf dem Zettel hatten. Andere, die weit vorne lagen, haben größte Mühe das Tempo mitzugehen.

Die Rolle des Ausreißers hat dieser Tage die CDU-Fraktion im Rat der Stadt eingenommen, als sie erklärte, sie unterstütze den "Essener Radentscheid". Nicht nur das: Sie erwäge, dem Bürgerbegehren, das sich für einen Ausbau des Radverkehrs ins Zeug legt, beizutreten, noch bevor dessen Initiatoren genügend Unterschriften von Unterstützern vorgelegt haben, sollte dies rechtlich möglich sein.

Einige CDU-Ortsverbände wollen Unterschriften fürs Bürgerbegehren sammeln

Im Windschatten der CDU erklärte sich kurz darauf auch die SPD. Wirklich überraschend ist aber das Tempo, das Essens Christdemokraten plötzlich anschlagen. Statt sich von einem Bürgerbegehren treiben zu lassen, setzen sie sich lieber mit an die Spitze des Feldes. Einige Ortsverbände wollen sogar selbst Unterschriften sammeln, weiß Fraktionschef Jörg Uhlenbruch zu berichten.

Die Initiatoren des Bürgerbegehrens haben sich 15.000 Unterschriften als Ziel gesetzt, um eine Verkehrswende zu erzwingen. Drei Prozent der Essener Wahlberechtigten müssten unterzeichnen. Dann stünde der Rat der Stadt vor der Wahl, ob er sich dem Essener Radentscheid anschließt oder nicht.

Die Mühe könnten sich die Fahrrad-Aktivsten sparen. Nun, da neben Grünen und Linken auch die beiden großen Parteien das Bürgerbegehren mittragen wollen. Dass die Aktivisten Stift und Unterschriftenlisten dennoch nicht beiseite legen, dafür gibt es Gründe. Schließlich habe die "Große Koalition" im Rat mit ihrer Verkehrspolitik der vergangenen Jahre erst den Anstoß für den Essener Radentscheid gegeben, betont Björn Ahaus, einer von drei Vertretungsberechtigten des Bürgerbegehrens.

Fahrrad-Initiativen sehen die CDU in der Rolle eines Bremsers

Insbesondere die CDU gilt in der Szene als Bremser, wenn es darum geht, den Radverkehr zu fördern. Durch jüngst vom Rat gefasste "halbherzige Beschlüsse" zum Bau der Umweltspur und zur Einrichtung einer Fahrradstraße auf der Rüttenscheider Straße fühlen sich Fahrrad-Initiativen in diesem Eindruck bestätigt.

Entsprechend zurückhaltend fiel die Reaktion auf die öffentliche Verlautbarungen der beiden großen Fraktionen aus. "Politikwechsel bei CDU und SPD oder doch nur Wahlkampf?", überschrieben die Initiatoren des Bürgerbegehrens eine Erklärung an die Presse, mit der sie ihre Verwunderung zum Ausdruck brachten.

CDU-Fraktionschef Jörg Uhlenbruch reagiert darauf "überrascht". Enttäuscht wäre das treffendere Wort. Hatte der Rat der Stadt doch bereits im September vergangenen Jahres auch mit den Stimmen der Christdemokraten den sogenannten "Modal Split" als Ziel vorgegeben, wie Uhlenbruch betont. Bis zum Jahr 2035 sollen die Essener 25 Prozent aller Wege mit dem Rad zurücklegen. Das Fahrrad wäre ein gleichberechtigtes Verkehrsmittel neben dem Auto und neben Bus und Bahn.

Oberbürgermeister Thomas Kufen warb bereits für eine Verkehrswende

Das Ziel sei ehrgeizig, räumt Uhlenbruch ein. Andere in seiner Fraktion nennen es illusorisch. Was der Radentscheid fordere, sei jedenfalls nicht neu, das Bürgerbegehren deshalb überflüssig.

Wer dem Fraktionschef zuhört, der gewinnt den Eindruck, die CDU sei schon immer vorne weggefahren, wenn es um den Ausbau des Radverkehrs ging. Nur gemerkt hat es keiner. Aber hatte Oberbürgermeister Thomas Kufen beim Neujahrsempfang des Einzelhandelsverband nicht eindringlich für eine Verkehrswende geworben? Vor einem Publikum, das den Ausbau des Radverkehrs eher kritisch sieht, wenn dafür zum Beispiel Parkplätze wegfallen sollen?

Kufen scheute sich nicht einmal davor, jenen die Meinung zu geigen, die selbst für kurze Strecken zum nächsten Bäcker oder Briefkasten ins Auto steigen. Diesen Leuten müsse man sagen: Ihr habt sie nicht alle.

Das Wort des Oberbürgermeisters hat Gewicht, auch und vor allem in der CDU-Fraktion. Aber wie ernst ist es den Christdemokraten mit dem Umstieg vom Auto aufs Rad oder andere umweltfreundlichere Verkehrsmittel?

Die heißen Sommer und "Fridays for Future" haben Eindruck gemacht

Uwe Kutzner, planungspolitischer Sprecher, räumt ein, dass seine Fraktion "erst ein bisschen umdenken" musste. "Aber auch uns ist nicht verborgen geblieben, dass der Fahrradverkehr zunimmt", sagt der Ratsherr aus Altenessen.

Die heißen und trockenen Sommer der vergangenen Jahre haben den Erkenntnisprozess beschleunigt. "Der nächste Sommer wird wieder heiß. Dem können wir uns nicht verschließen", sagt Kutzner. Der Ruf nach Klimaschutz, den die Bewegung "Fridays for Future" auf die Straßen getragen hat, wird seinen Teil dazu beigetragen haben.

Die Coronakrise mag den Klimaschutz als wichtigstes Thema aus Medien und Köpfen verdrängt haben. Erledigt ist die Sache damit nicht. Und dass sich mit Umweltthemen Wahlen gewinnen lassen, hat die Europawahl gezeigt, bei der die Grünen kräftig abräumten. In Essen landeten sie mit 22,8 Prozent als zweitstärkste Kraft knapp hinter der CDU, die 23,4 Prozent holte. In ihren Hochburgen wie Rüttenscheid gingen die Grünen sogar als erste durchs Ziel.

Förderung des Radverkehrs und Ausbau der A52 sind für die CDU kein Widerspruch

Das hat Eindruck gemacht. Man wolle das Thema nicht einfach den Grünen überlassen, heißt es hinter vorgehaltener Hand aus den Reihen der CDU-Fraktion. Auch deshalb radeln einige lieber mit als gegen den Wind.

Genüßlich erinnert Uwe Kutzner daran, dass es CDU und SPD waren, die Essens erste Umweltspur auf den Weg gebracht haben, während Grüne und Linke dagegen stimmten, weil ihnen der Entwurf der Verkehrsplaner nicht weit genug ging. "Wenn einer was für die Fahrradfahrer tut, dann ist es die große Koalition", sagt Kutzner.

Dass seine Partei gleichzeitig am Ausbau der A52 festhält, ist aus Sicht des Planungspolitikers kein Widerspruch. Auch müsse der Radverkehr nicht zwangsläufig auf Kosten des Autoverkehrs ausgebaut werden. "Wir wollen alles dafür tun, damit das Fahrradfahren attraktiver wird. Aber das sollte nicht dazu führen, dass die Autofahrer verprellt werden", sagt Kutzner.

Solche Aussagen provozieren Widerspruch des politischen Gegner. Die vermeintliche Unterstützung des Radentscheids durch CDU und SPD sei nichts anderes als ein Lippenbekenntnis, mit dem Ziel, dem Bürgerbegehren den Schwung zu nehmen, warnt Mehrdad Mostofizadeh, Oberbürgermeister-Kandidat der Grünen.

Auch Björn Ahaus traut dem Braten nicht. Die Devise laute deshalb: "Sammeln, sammeln, sammeln."

ESSENER RADENTSCHEID

Der Essener Radentscheid setzt sich für mehr Tempo bei der Förderung des Radverkehrs ein. So soll die Stadt Essen unter anderem das Hauptroutennetz fertig stellen und für mehr Sicherheit auf Radwegen und an Kreuzungen sorgen. Die Ziele sollen bis zum Ende des Jahrzehnts umgesetzt werden. Die Stadtverwaltung hat die Forderung mit einer Kostenschätzung hinterlegt. Demnach müsste die Stadt rund 232 Millionen Euro investieren. Die Initiatoren verweisen darauf, dass Bund und Land den Ausbau des Radverkehrs mit Millionensummen fördern.