Der Autor macht sich Gedanken, wie seine Tochter - und alle jungen Menschen, die gerade ins Leben starten, durch die Pandemie ausgebremst werden

Liebe Tochter …..

Wie haben wir Eltern auf diesen Augenblick hingefiebert – nach all den Jahren Hausaufgaben und Frühstücksdosen und Klausurenlernen ist der Moment nun da: Du hast Dein Abitur fast geschafft! Ein ganz wichtiger Abschnitt Deines Lebens strebt dem Abschluss zu. Wir sind stolz, wie Du das alles gedeichselt hast, trotz Pandemie und Abstandhalten und digitalem Versagen unseres Bildungssystems.

Und gleichzeitig sind wir tief traurig, uns ist zum Heulen. Zum Mitheulen. Denn Ihr dürft dieses Ereignis nicht feiern, wie es sich gehört: Ihr hattet keine Mottowoche, keine wilden Partys, die Legende werden, vielleicht keinen Abiball.

Ihr hättet Grund gehabt, Euch zu feiern

Ihr wart ein guter Jahrgang, glaube ich – offenbar mit echtem Zusammenhalt. Natürlich hörten wir auch von Konflikten und Gezicke. Aber: „Wir passen aufeinander auf“, sagtest Du mal. Ich fand, das ist mehr als man über die meisten Menschen sagen kann. Ihr hättet also allen Grund gehabt, Euch zu feiern.

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Du hattest Dich im Finanzkomitee seit einem Jahr mit darum gekümmert, dass Geld beikommt für den Ball und für das Drum und Dran: Ihr habt Rechnungen von über 30.000 Euro am Bein – und Ihr wisst nicht, was daraus wird. Und das ist nicht die schlimmste Ungewissheit.

Endlich frei! Du hattest soviel Pläne für die Zeit nach den Prüfungen. Gut organisiert und tough, wie du bist, hattest du praktisch das ganze Folgejahr durchgetaktet: Du hattest Dich beworben für drei Monate Volunteer-Programm in Edinburgh, Du wolltest auf Norderney jobben, die Großeltern und wir wollten zusammenlegen und dir eine längere Reise schenken, ein Berufspraktikum war quasi eingetütet – und auch Deinen Start ins Studium hattest du bereits im Auge.

Das lapidare Ende einer langen Lebensphase

Und dann hieß es von einem Tag auf den anderen: Stopp, das war‘s, alle Pläne auf Halt – und Eure Schulzeit war praktisch vorüber. Ihr solltet einfach nicht mehr zum Unterricht kommen. Eine Vollbremsung - es war das lapidare Ende einer langen Periode Eures Lebens.

CoVid 19 war über uns gekommen, und änderte alles. In der ersten Phase als wir alle noch ein bisschen leichtsinniger waren, habt ihr euch rebellisch gegeben und heimlich getroffen, um zwei-, dreimal Party zu machen. Das haben wir verstanden – streng den Abstand angemahnt und heimlich grinsend weggeschaut.

Und dann wurden die Corona-Nachrichten schlimmer, und Ihr wurdet sehr vernünftig, irgendwie schrecklich vernünftig, so vernünftig sollten junge Menschen eigentlich gar nicht sein. Deine Freunde und Du, Ihr habt Euch tatsächlich mehrheitlich an die Quarantäne gehalten.

Nur kein Mitleid!

Am Anfang war das sogar noch ein bisschen spaßig: Mit Zoom-Konferenzen bis zum frühen Morgen, endlose Overwatch-Zockerrunden, Serien-Binge-Watching. Ihr machtet sarkastische Scherze. Aber nach etlichen Wochen ist der Spaß längst vergangen – wir merken, wie der Zustand Dich langsam mürbe macht, obwohl du das leugnen würdest.

Du verbittest Dir inzwischen auch jegliches Mitleid, das verstehe ich. Ihr wollt es nicht ständig unter die Nase gerieben bekommen, was Ihr alles verpasst. Du gehörtest nie zu den selbstmitleidigen Menschen. Du hast nie geklagt – aber ich merke Dir an, wie du dünnhäutiger wirst.

Chancen, Pläne, Perspektiven - alles erst einmal geplatzt

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Wie auch nicht. Und es geht ja allen so, die in der gleichen Situation stecken: Die Auszubildenden, die demnächst ihre Prüfungen machen: Vor einem halben Jahr noch galt ihre Übernahme als sicher, es herrschte doch Fachkräftemangel. Inzwischen ist die Wirtschaft komplett am Boden, auf Jahre hinaus. Die Erasmus-Studenten, die ihren Auslandsaufenthalt abbrechen mussten, die Erstsemester, die in einer fremden Stadt nicht auf Feten gehen, sondern zuhause vor dem Laptop hängen, um Vorlesungen zu besuchen. Die Berufseinsteiger, deren Karrierestart versaut ist.

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Die Pandemie treibt Millionen in den wirtschaftlichen Ruin. Und sie nimmt jungen Menschen Chancen, Aussichten, Perspektiven, Pläne. Das ist es, was mich als Vater niederdrückt. Für mich selbst waren die Einschnitte bisher nicht sehr tief, ich hatte mehr Glück als viele anderen: Ja, es wurden Urlaube gestrichen, Geld ging verloren, man arbeitet im Homeoffice, ich vermisse die Kollegen, den Chor und die Volleyballtruppe. Aber das war‘s im Wesentlichen. Ich muss bis auf weiteres nur Abstand halten, die Maske tragen und abwarten, bis die Pandemie abflaut oder es einen Impfstoff gibt.

Zur Person

Andreas Fettig, Jahrgang 1963, ist Chef vom Dienst der Funke-Online-Redaktion in NRW. Er arbeitet seit 20 Jahren für das Unternehmen. Seine Töchter sind 21 und 18 Jahre alt.

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Die ältere wird im Herbst eine Ausbildung beenden, die jüngere steckt im Endspurt des Abiturs an einem Essener Gymnasium. Beide sind grundsätzlich und eigentlich optmistische Menschen, aber in den täglichen Gesprächen mit ihnen und ihren Freunden spürt man die wachsenden Sorgen um die Zukunft. Und die teilen sie mit Millionen junger Leute, die nun in der gleichen Situation stecken. Das war der Anlass dieses Briefes.

Und selbst die meisten hochbetagten Menschen, die ich kenne, gehen gelassen mit den Risiken um. „Wir passen auf - und wir haben unser Leben doch gelebt“, hört man nicht selten, begleitet von einem Achselzucken.

Was Ihr braucht, ist vor allem trotzige Zuversicht

Und so glaube ich inzwischen, dass Corona den Kindern (und ihren Eltern) sowie den jungen Leuten am Ende das größere Päckchen aufgepackt hat. Denn: Wie verändert es den Menschen, wie verzagt muss es ihn machen, wenn Pläne platzen, wenn der Traum von der großen Freiheit, die jetzt beginnen sollte, die Hoffnung auf die Verwirklichung der ersten Ziele einfach vertagt wird – möglicherweise um Jahre?

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Bisher galt die Generation Z als anspruchsvolle, wenig leistungsorientierte Generation. Ich bin gespannt, wie sie nun reagiert. Mit Resignation oder mit Trotz? Letzteres traue ich Dir zu, Tochter, und wünsche es auch Deinem gesamten Jahrgang. Denn wir werden mit dem Virus leben lernen (müssen) und mit dem Klimawandel und noch ein paar anderen Unzulänglichkeiten, die der Planet gerade bereithält– und nur mit trotziger Zuversicht kann man sich dem stellen.

Ihr werdet nicht alles, aber vieles nachholen!

Glaube mir, es wird auch wieder besser. Die jetzigen Lockerungen sind erst der Start dazu. Und Ihr werdet zwar nicht alles, aber ganz viel nachholen können. Lasst euch von einem Virus nicht den Lebensmut nehmen.

Wir machen in der Familie immer noch schlechte Witze und stellen uns Bewerbungsgespräche in der Zukunft vor: „Ah, Sie haben 2020 Abitur gemacht ….. wir melden uns, rufen Sie nicht an!“

So sollte es natürlich mitnichten sein: Wir alle, vor allem wir Boomer, sollten diesen Abiturienten und Azubis und Studenten und Berufseinsteigern, diesem Seuchenjahrgang, dabei helfen, dass sie doch noch einen sauberen Start in die große Freiheit hinkriegen. Wir sollten sie, wo immer sie nun antreten, unterstützen, ihnen Chancen geben und möglichst viele Wege ebnen. Ihr Start ist steinig - und wir sollten versuchen, ein paar Steine wegzuräumen.

Ich finde, liebe Tochter, mindestens das habt Ihr verdient.

Dein Vater