Essen. Imbiss statt Bäcker, PC-Shop statt Metzger: Das neue Einkaufszentrum soll Nahversorgung in Freisenbruch sichern – dabei gab es hier einst alles.

Pizzerien, Versicherungsbüros, Apotheken, den Angelsport-Shop und immer wieder Leerstände gibt es an der Bochumer Landstraße. Verschwunden sind längst Bäcker, Fleischer, Gemüsehändler und mancher Supermarkt. Ab 2021 soll in Freisenbruch ein großes Einkaufszentrum entstehen, um die Nahversorgung zu verbessern. Dabei erinnert sich manch einer im Stadtteil an Zeiten, als der Einzelhandel auf der Einkaufsstraße neben Lebensmitteln auch Schuhe und Textilwaren bot, als es eine Mühle und Milchmänner gab. Ins geplante Quartier am Hellweg sollen Aldi, Edeka und DM einziehen.

Die Bochumer Landstraße zwischen Zweibachegge und Rodenseelstraße im Jahr 1977, links neben der Apotheke befindet sich der Eingang zur Mühle Geishauser.   
Die Bochumer Landstraße zwischen Zweibachegge und Rodenseelstraße im Jahr 1977, links neben der Apotheke befindet sich der Eingang zur Mühle Geishauser.    © Steeler Archiv | Bild

„Herrlich, ihr müsst nirgends hin. Hier gibt es ja alles vor Ort“, die Worte seines Schwiegervaters beim ersten Besuch in Freisenbruch hat Uwe Zander noch im Ohr, auch wenn inzwischen Jahrzehnte vergangen sind, in denen er beobachtete, wie ein Laden nach dem anderen aufgab. Wenn sich nun aktuell viele Lücken wieder geschlossen hätten, „ist das für die Miete sicherlich gut“, sagt der ehemalige Diplom-Sozialarbeiter. Aber wer brauche denn die vielen Imbisse, Spielcasinos oder Nagelstudios.

Lebensmittelmarkt, dann ein Discounter und schließlich ein Tattoo-Studio

Blickt er auf den Wandel, fällt ihm als Beispiel der Saal neben der Gaststätte Sahrhage (die der Theater- und Karnevalsgesellschaft „Humor“ ein Vereinsheim, und allen Gästen Schlegel-Hell und Stern-Pils bot) ein. Wurde der benachbarte Raum einst für Kino- und Theateraufführungen genutzt, folgte dort der „Steeler Einkauf“ mit Lebensmitteln, später übernahm erst Plus und dann ein Tattoo-Studio die Räume. Die Gaststätte immerhin gebe es noch, unter dem Namen „Neues Mannitou“ sei sie Clubheim für Vereine wie die Gänsereiter und beliebter Treff für Jugendliche.

Wie sie die Bochumer Landstraße in den vergangenen Jahrzehnten erlebten, darüber berichten: (v. l.) Reiner Balke, Hans Schelenz und Uwe Zander.
Wie sie die Bochumer Landstraße in den vergangenen Jahrzehnten erlebten, darüber berichten: (v. l.) Reiner Balke, Hans Schelenz und Uwe Zander. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Uwe Zander besuchte seine Großeltern schon als kleiner Junge am Hellweg, noch bevor er selbst in den Stadtteil zog und dort bis 2006 blieb. Bis zur Mühle Geishauser lief er als Kind, „weil mein Opa gern Panhas aß, das Buchweizenmehl dafür gab es nur dort“, erzählt er. Mit der großen Schüssel flitzte er sonntags los, da man die Schlagsahne noch beim Bäcker holte, während sein Großvater nach der Schicht bei der Bahn den Eingang in die Backstube bei Berns nahm, wo ihm der Bäcker ganz früh morgens die Brötchen aus dem Ofen reichte.

Festzeitung von 1956 mit zahlreichen Anzeigen der Einzelhändler

Allein von vier Bäckern auf der einstigen Bochumer Straße (wie die Bochumer Landstraße zuvor hieß) zeugen die Annoncen in der Festzeitung zum Freisenbrucher Volksfest aus dem Jahr 1956. So warben die Bäckerei Achenbach, Herzwurm, Brimberg und Berns für Brot, Torten und Kuchen, die Drogerie A. Schulte für „Photo, Parfümerie und Spirituosen“ und Georg Höing sowie Friedrich Menkhorst für ihre feinen Fleisch- und Wurstwaren in den Ochsen-, Kalb- und Schweinemetzgereien.

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Johann Wojtaszek (Im Haferfeld) pries Obst, Gemüse, Kartoffeln und Konserven („Eßt mehr Obst“) und Jakob Finken Radios, Waschmaschinen und Beleuchtungskörper sowie die Reparaturen dieser an. Einen „Salon der modernen Haarpflege“ führte Willi Kaiser an der Bochumer Straße 349, während Josef Schlüter auf der anderen Straßenseite neben Fahrrädern und Mopeds auch Nähmaschinen verkaufte. Uhren, Schmuck und Besteck erhielt man bei Peter Ebsen, bei Heep & Sohn wiederum Elektro- und Kohlenherde sowie Rundfunkgeräte und Musikschränke mit günstiger Teilzahlung. Und das Blumenhaus Lorenz Lueben war 1956 bereits „40 Jahre am Platze“.

Einzelhandels-Mix deckte im Stadtteil alles ab

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Der Einzelhandels-Mix ließ keine Wünsche offen, „außer, man wollte mal Kleider im Steeler Kaufhaus kaufen“, sagt Reiner Balke. Was nicht heißt, dass es in Freisenbruch keine Textilgeschäfte gegeben habe, ganz im Gegenteil: „Schon Hildebrand hatte gleich drei Ladenlokale allein auf der Bochumer Landstraße“, sagt der 73-Jährige, noch bis Mitte der 1990er habe es das Unternehmen gegeben, in dem seine Frau gearbeitet habe.

Sie war auch der Grund dafür, warum der gebürtige Eiberger überhaupt ins benachbarte Freisenbruch an die Märkische Straße „auswanderte“. Zu Zeiten, als zwischen den Vierteln arge Rivalität im Fußball und bei manchem Rendezvous herrschte („es gab Kloppe, wenn ein Eiberger mit einem Freisenbrucher Mädchen ausgehen wollte“), entkam er zum Glück der Schlägerei. Geblieben ist die große Liebe, seit 53 Jahren.

Situation ist besonders für ältere, nicht mehr mobile Menschen schwierig

Ein Blick von der Bochumer Landstraße Richtung Rodenseelstraße, Plus-Markt, Edeka-Markt und vorn mit der Tankstelle, all das gibt es nicht mehr.   
Ein Blick von der Bochumer Landstraße Richtung Rodenseelstraße, Plus-Markt, Edeka-Markt und vorn mit der Tankstelle, all das gibt es nicht mehr.    © Steeler Archiv | Bild

Genauso lange beobachtet Reiner Balke den Wandel im Stadtteil: Vom Einkauf, da man einen Bezug etwa zur Verkäuferin in der Bäckerei Bremberg hatte („sie wusste, wenn Du Schnupfen hattest“), bis zur heutigen Situation, unter der vor allem ältere, alt eingesessene, nicht mobile Nachbarn leiden, weil sie Geschäfte fußläufig nicht erreichen, die schweren Taschen nicht weit tragen können.

Alles, was von der letzten Bäckerfiliale eines Wattenscheider Betriebes blieb, der sich 2018 verabschiedete, ist die Schrift auf der Hauswand: „Wir backen – Sie genießen.“ Der letzte Metzger habe schon vor etwa fünf Jahren geschlossen. Schlecker und Coop sind Geschichte. Fleisch und Brot bietet Rewe heute an, den Discounter Netto gibt es noch. Und die beiden Eisdielen, auch wenn „Simon“ nicht mehr über die Dörfer fahre.

Verlust des Dorfcharakters auf der Bochumer Landstraße

Der Niedergang der Einkaufsstraße nimmt Reiner Balke seit etwa 15 oder 20 Jahren so richtig wahr, bedauert den Verlust des Dorfcharakters auf der Bochumer Landstraße, auf der das soziale Leben stattfand. „Gäbe es die Feste der Werbegemeinschaft nicht, man würde manchen gar nicht mehr treffen“, beschreibt er ihre große Gemeinschaft, in der man stets gern zusammensaß.

Angefangen haben die Veränderungen rund um die Bochumer Landstraße und die Geschäftswelt wohl bereits mit dem Ausbau der Straße in den 1970ern. „Da wurde die Möglichkeit genommen, mal eben auf die andere Straßenseite herüber zu laufen“, sagt Reiner Balke, der gleichwohl nicht an einen Grund glaubt. Vielmehr fand mancher Inhaber keinen Nachfolger, Lebensmittelhändler hielten mit Einzug der größeren Supermärkte mitunter der Konkurrenz nicht stand. Die kam dann zudem aus Steele, das zum Mittelzentrum erweitert wurde.

Neue Angebote helfen beim täglichen Bedarf oftmals nicht

An der Bochumer Landstraße/Ecke Vietingstraße befand sich der , „Steeler Einkauf“, das Bild ist von 1978, heute gibt es in den Räumen einen Imbiss.
An der Bochumer Landstraße/Ecke Vietingstraße befand sich der , „Steeler Einkauf“, das Bild ist von 1978, heute gibt es in den Räumen einen Imbiss. © Steeler Archiv | Bild

So wurde manche Metzgerei inzwischen zu Wohnraum umgebaut, es verschwanden Lebensmittelmärkte wie der Steeler Einkauf („es gab sogar drei Standorte“) und kleinere Discounter wie Plus an der Ecke Rodenseelstraße, wo sich das Matratzengeschäft ebenfalls nicht hielt. Im Café Berns übernahm die Horster Konditorei Ruhrmann, dann ein Weinhändler, gefolgt vom PC-Shop.

„Das sind heute oftmals Geschäfte, die mit Blick auf den täglichen Bedarf nichts bringen“, sagt der 73-Jährige. Zuletzt schloss der Schreibwarenladen, in dem es bereits seit Jahren zwei Kühltheken und neben Zeitschriften Leberwurst und Milch gab, allein weil die Inhaberin den Senioren hat helfen wollen und dafür Kaffee oder Toilettenpapier auch nach Hause brachte.

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Abhilfe bei der fehlenden Nahversorgung soll nun voraussichtlich ab 2022 das neue Quartier am Hellweg schaffen. Den Neubau erwarteten alle selbst mit Blick auf die noch ungewohnte wie moderne Architektur und die Größe mit Vorfreude, sagt Reiner Balke zur Stimmung im Stadtteil: „Das Einkaufszentrum ist gewollt, das möchten wir hier haben.“