Essen. Ein Junge (14) ist an einer Bushaltestelle in Essen erstochen worden. Tatverdächtig ist ein 17-Jähriger. Die Tat sorgt für Entsetzen im Viertel.
Die Jugendlichen stehen beieinander, halten sich in den Armen, weinen: Gestern waren sie noch eine Clique, nun ist einer von ihnen tot, Opfer einer Gewalttat, und seine Freunde sind jetzt Zeugen. Sie sahen, wie der erst 14-Jährige am frühen Sonntagmorgen an einer Bushaltestelle in Essen-Horst zusammenbrach, „und dann war er tot“, schluchzt ein Mädchen. „Der war noch ein kleiner Junge!“, ruft ein anderer Jugendlicher. Auch der mutmaßliche Täter ist noch jung, 17 Jahre alt. Die Polizei hat ihn noch in der Tatnacht gefasst.
Es war ein einzelner Stich in den Oberkörper, der die tödlichen Verletzungen verursachte. Das habe die Obduktion des Opfers bestätigt, berichteten Polizei und Staatsanwaltschaft am Montagmorgen.
Am Sonntag bringen die Jugendlichen Blumen und Kerzen zu der Bushaltestelle „Carl-Wolf-Straße“ am Von-Ossietzky-Ring in Horst. Die Sonne scheint an diesem Sonntagmittag, doch auch sie kann nicht vergessen lassen, dass dies ein Tatort ist: Davon zeugen nicht nur die zahllosen Mannschaftswagen der Polizei, die am Ring geparkt haben, und die Beamten, die die umliegenden Straßen durchkämmen, unter Autos und in Büsche gucken. Schon in der Nacht haben sie Spuren und Beweismittel gesichert, nun setzen sie die Suche fort, suchen auch noch die Tatwaffe, laut Polizeiangaben war es ein Messer.
17-jähriger Tatverdächtiger sitzt in Untersuchungshaft
Am Sonntagabend gegen 19.30 Uhr sei 17-jährige Tatverdächtige dem Haftrichter vorgeführt worden, hieß es weiter. Der Richter ordnete Untersuchungshaft an.
Von dem für alle Anwohner unfassbaren Geschehen zeugt am Sonntag noch der große Blutfleck am Wartehäuschen. Ein Mann, der zur Haltestelle kommt, den roten Fleck sieht, bricht in Tränen aus: „Das war mein Enkelsohn. So ein hübscher Junge.“
Am Wartehäuschen „Carl-Wolf-Straße“ ist ein Blutfleck geblieben
Mehr kann der Großvater nicht sagen, andere reden dafür mehr. Sie stehen unter Schock angesichts dieser Tat, die sich nachts abspielte, und doch viele Zeugen hatte. Der Von-Ossietzky-Ring ist tiefstes Hörsterfeld, hier reiht sich ein schmuckloses Mehrfamilienhaus ans nächste. Als es gegen halb drei am frühen Sonntagmorgen laut wurde an der Bushaltestelle, öffneten sich viele Fenster, kamen Nachbarn auf die Balkone.
Gruppe Jugendlicher traf sich nachts an der Bushaltestelle
An der Bushaltestelle hatte sich offenbar eine Gruppe von Jugendlichen getroffen, rauchend, trinkend, lärmend. „Erst war es nur laut“, sagt Michelle Di Stefano (30), deren Wohnzimmer zur Straße liegt. Dann habe sie Scherben klirren gehört, es seien wohl Flaschen geworfen worden – die Stimmung wurde aggressiver.
Als sie auf ihren Balkon trat, sah sie auf der Straße Jugendliche, die sich schubsten. Die Polizei wird später sagen, dass nicht nur Minderjährige in der Gruppe waren, die sich dort versammelt hatte. Michelle Di Stefano ging in der Nacht in die Wohnung, alarmierte die Polizei, das war um 2.50 Uhr. „Da hörte ich einen Schrei: ,Der blutet, der blutet.’ Ich sah den Jungen, der noch ein paar Schritte machte und dann zusammenbrach.“ Ein anderer Jugendlicher sei davon gelaufen. Vermutlich der Täter.
Nachbarn in Essen-Horst fassungslos über die Tat
Zuvor habe der noch ein Mädchen bedroht, während die Nachbarn tatenlos zugeschaut hätten, so hat es eine Mutter auf Facebook gepostet: „Meine Tochter hat geschrien und niemand hat geholfen, alle haben nur dumm vom Balkon geschaut. Das war ihr Freund, der niedergestochen wurde, und der 17-Jährige ist noch auf meine Tochter los, um sie zu erstechen.“
Auch Waldemar (37), der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, berichtet von einem Mädchen: „Das wollte der Täter wohl auch angreifen. Aber da standen schon so viele Leute draußen – da ist er wohl lieber abgehauen.“ Der 37-Jährige wohnt selbst an der Carl-Wolf-Straße und wurde vom Lärm geweckt. Er ist am Sonntag noch fassungslos über die „schreckliche Tat“, fragt sich, warum die Jugendlichen spätnachts draußen waren. Seine drei Kinder sind 14, 16 und 17 Jahre alt: „Die waren zu Hause, schon wegen Corona.“
Junger Mann eilte dem verletzten 14-Jährigen zu Hilfe
Dass niemand geholfen habe, kann Waldemar nicht bestätigen, im Gegenteil: „Ein Nachbar hat versucht, den Jungen wiederzubeleben.“ Diesen Nachbarn treffen wir später in der kleinen Ladenzeile unweit des Tatorts, in der es mehr Leerstand als Läden gibt. Bijans Kiosk ist geöffnet, hier stehen die Nachbarn an diesem Sonntagmorgen zusammen, haben nur ein Thema: Wie konnte ein 14-Jähriger sterben, getötet von einem Jugendlichen?
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Diese Frage wühlt den jungen Mann, der nur seine Initialen (K. F.) verrät, besonders auf: Auch er rief in dieser Nacht die Polizei, rannte dann im Bademantel auf die Straße. „Ich hab’ versucht, den Jungen zu reanimieren, hab’ Herzmassage gemacht… Kurz konnte man etwas Puls fühlen, dann war der wieder weg. Keine Regung mehr.“
Junge starb kurz nach der Tat im Krankenhaus
Auf den Bildern, die nachts am Tatort entstanden sind, kann man K. F. sehen. Als die Polizei eintraf, hätten die Beamen die Reanimationsversuche übernommen, später der Rettungsdienst. Es sei ein verzweifelter Kampf gewesen, sagt K. F., aber auch der Notarzt habe den Jungen nicht zurückholen können. Der 14-Jährige sei kurz nach der Tat im Krankenhaus gestorben, sagt die Polizei. Mit einem Hubschrauber suchte die Polizei nach dem tatverdächtigen Jugendlichen.
Zu dieser Zeit waren die Beamten mit einem Großaufgebot auf der Suche nach dem Täter, der Hubschrauber, der über dem Stadtteil kreiste, weckte die wenigen Nachbarn, die bis dahin noch nichts von dem Geschehen mitbekommen hatten. „Ich habe gleich gedacht, dass da etwas Schlimmes passiert sein muss“, sagt Anna Fanina (34), als sie den Rotoren-Lärm hörte. „Das ist so traurig. Ich bin selbst Mama. Ich frage mich, wieso die Kinder nachts unterwegs waren.“
„Das Hörsterfeld ist ein Desaster“, sagt einer, der dort lebt
K. F. wundert das nicht: „Das Hörsterfeld ist ein Desaster.“ Es sei nicht lange her, da habe er eingreifen müssen, als 12-, 13-Jährige einen behinderten Mann angreifen wollten. Ein anderes Mal habe er einen Vater zur Rede gestellt, der auf offener Straße seinen Sohn schlug: „Ein Kind, das gerade laufen konnte.“
Er könne sich nicht vorstellen, dass sein zehnmonatiges Kind in diesem Umfeld aufwachse: „Ich will hier weg.“ Auch andere Anwohner berichten von Gewalt im Stadtteil, es gibt aber auch diejenigen die sagen: „Hier ist es meist friedlich.“
Opfer (14) und Täter sind wohl im Stadtteil groß geworden
Täter und Opfer sind vermutlich in dem Stadtteil groß geworden. Ob der 17-Jährige, der kurz nach der Attacke in einer kleinen Parkanlage in Tatortnähe entdeckt und vorläufig festgenommen wurde, bereits polizeibekannt war, ist noch offen. Klar ist am Sonntag nur, dass er erheblich unter Alkoholeinfluss stand.
Die Polizei bestätigt zudem, dass er deutscher Staatsbürger sei: Ein Nachbar hat ein Foto von dem Tatverdächtigen, das ihm Jugendliche über Messengerdienste zugeschickt haben: Es zeigt einen blonden Jugendlichen, dessen auffälligstes Merkmal seine Unauffälligkeit ist. Ob und wann er einem Haftrichter vorgeführt wird, stand am Sonntag noch nicht fest.
Hintergründe der Tat sind unklar
In welchem Verhältnis der 17-Jährige zu seinem Opfer stand, ist laut Polizei ebenfalls noch offen, verwandt seien die beiden wohl nicht.
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Eine Mordkommission der Polizei Essen hat die Ermittlungen aufgenommen. Am Sonntag liefen bereits erste Vernehmungen auch mit den Personen, die in der Nacht an der Bushaltestelle gewesen seien, sagte eine Polizeisprecherin.
Zeugen sollen helfen aufzuklären, wie die Situation zwischen den beiden Jugendlichen tödlich eskalieren konnte (0201/829-0). Die Hintergründe sind derzeit noch völlig unklar. „Da war kein Streit. Der war nur betrunken, dann hat er ihm einen Stich gegeben“, sagt eins der weinenden Mädchen, die am Sonntag an der Bushaltestelle zusammengekommen sind. Ihre Freundin nickt, auch ihr Gesicht ist verweint: „Und dann ist er vor unseren Augen gestorben.“