Essen. Seit Corona kann ich meine demente Mutter in einem Essener Altenheim nicht mehr besuchen. Und ihr auch nicht erklären, warum das so ist.
Meine Mutter ist 86 und lebt seit knapp drei Jahren in einem Altenheim. In dieser Zeit ist ihre Welt immer kleiner geworden – was mit ihrer parkinsonbedingten Demenz zu tun hat, aber auch mit ihrer zunehmenden Unbeweglichkeit, die darin mündet, dass sie zu 100 Prozent auf fremde Hilfe angewiesen ist und sich kaum noch artikulieren kann. Der einzige Anker, die einzige Sicherheit in ihrem Leben, das ihr Stück für Stück verloren geht, bin ich: Meine fast täglichen Besuche geben ihr Halt. Bin ich nicht da, ruft sie meinen Namen, immer wieder.
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Doch nun ist ihre kleine Welt vollends aus den Fugen geraten: Denn die Corona-Pandemie verhindert seit vier Wochen, dass ich sie sehen und in den Arm nehmen kann. Das Besuchsverbot soll sie und ihre Mitbewohner schützen. Mein Verstand sagt: Das ist richtig so. Die Verantwortlichen wollen und müssen natürlich unter allen Umständen einen Flächenbrand in ihren Einrichtungen verhindern. Denn in den insgesamt 77 Essener Altenheimen leben ausschließlich Menschen, die dem Corona-Virus quasi schutzlos ausgeliefert wären: Menschen, die alt und schwach sind, die viele Vorerkrankungen haben. Aber dort leben auch Menschen, deren Tage ohnehin gezählt sind. Die auch ohne Corona auf den Tod warten. Und das nun allein tun müssen. Ohne die Begleitung ihrer Liebsten.
Selbst Pakete per Post sind derzeit nicht mehr erlaubt
Anfänglich durfte ich noch, ausgerüstet mit Nase- und Mundschutz und den nötigen Abstand haltend, meine Mutter einmal in der Woche für eine Stunde besuchen. Doch kaum gab es den ersten Coronafall in einem Essener Heim, wurde die Erlaubnis gekippt. Dann hieß es, ich dürfte wenigstens kleine Geschenke, Blumen, ihren geliebten Saft, Joghurts und Pralinen unten an der Pforte abgeben. Auch das wurde zurückgenommen, ich solle nun alles per Post schicken, wurde mir mitgeteilt. Der letzte, aktuell gültige Brief der Heimleitung verbietet auch das: Man wisse nicht, ob und wie lange das Virus auf Flächen überlebt.
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All‘ diese Maßnahmen zeigen, wie sehr die Verantwortlichen angesichts einer Pandemie, der man im wahrsten Sinne des Wortes ausgeliefert ist, um die richtigen Entscheidungen ringen. Von anderen Heimen höre ich Ähnliches: Auch dort gibt es fast jeden Tag neue Verordnungen, die je nach Träger unterschiedlich sind.
Als Außenstehende wünsche ich mir ein einheitliches und nachvollziehbares Vorgehen, das von einer Behörde wie unserem in diesen Tagen allerdings sehr strapazierten Gesundheitsamt gesteuert wird. Und ich wünsche mir auch, dass ernsthaft über eine Möglichkeit des Besuchs in naher Zukunft nicht nur öffentlich nachgedacht wird. Was ja zum Glück gerade passiert. Ich wäre auf jeden Fall bereit, alles dafür zu tun.
Wie erkläre ich meiner dementen Mutter den Lockdown?
Bis es soweit ist, bleiben mir nur das Telefon und gelegentliche visuelle Begegnungen via Skype. Aber wie erkläre ich meiner dementen Mutter meine Abwesenheit, wie den Lockdown? „Wann kommst Du?“, fragt meine Mutter bei solchen Telefonaten. Oder „Wann holst Du mich ab?“ Und das sind die guten Tage, an denen meine Mutter vollständige Sätze spricht. Oft ruft sie zigmal hintereinander nur meinen Namen.
Denn unsere Kommunikation läuft zunehmend nonverbal ab: durch Nähe, Umarmungen, aber auch gemeinsames Hören ihrer Lieblingshits von Hildegard Knef, Edith Piaf oder Udo Jürgens.
Bei jedem Abschied sage ich ihr, wie sehr ich sie liebe. Wohlwissend, dass es ein Abschied für immer sein kann. „Ich lieb‘ Dich auch“, hat sie beim letzten Telefongespräch erwidert. Und mich für einen kurzen Augenblick glücklich gemacht.