Essen. Hunderte Essener haben den Behörden schon Corona-Regelbrecher gemeldet. Aber wo ist die Grenze zwischen sozialem Verhalten und Denunziantentum?

Eine Welle der Solidarität geht durchs Land. An Brücken und von Balkonen hängen Transparente mit Danksagungen an die „Helden des Alltags“, in sozialen Netzwerken und der Nachbarschaft bilden sich Gruppen, die den besonders gefährdeten Menschen, das Einkaufen abnehmen, Freiwillige nähen Atemschutzmasken, Kreative bieten im Internet schier unendliche Angebote zum Zeitvertreib an. In der Corona-Krise rückt die Gesellschaft zusammen…

Das ist die eine Perspektive auf unsere Gesellschaft in dieser denkwürdigen Zeit. Die andere ruft Erinnerungen an totalitäre Regime und unfreie Gesellschaften wach, in denen jeder im Verdacht steht, seinen nebenan zu überwachen. Vornehmlich geht es in diesen Strukturen immer um den Schutz der Gesellschaft. Doch wann wird aus Gesellschaftsverantwortung Denunziantentum?

Bürger melden Polizei und Ordnungsamt Corona-Regelbrecher


Seit der Verschärfung Corona-Schutzmaßnahmen gehen täglich durchschnittlich 44 „Notrufe“ bei der Essener Polizei ein. Fast immer will der Anrufer den Behörden mitteilen, dass er eine „größere Personengruppe“ gesehen hat, die verdächtig danach aussähe, als sei sie keine Familie. Den größten Teil dieser Einsätze, so sagt Polizeisprecher Christoph Wickhorst, gibt die Polizei weiter an das eigentlich zuständige Ordnungsamt der Stadt Essen.

Auch dort gehen jede Menge Anrufe und Mails besorgter Bürger ein, wie Stadtsprecherin Silke Lenz berichtet. Wie viele genau, das kann Lenz nicht sagen. Die Stadt zähle die Hinweise und die Einsätze nicht, heißt es. Zuletzt seien es aber etwas weniger geworden.

Ordnungsamt und Polizei verhängen Bußgelder


Gleichwohl gehen die Behörden den Hinweisen aus der Bevölkerung sehr wohl auch nach. Dass die Einsatzkräfte Verstöße ahnden können, liegt eben nicht nur an ihrem guten Riecher für mögliche Brennpunkte, sondern auch an der „sozialen Kontrolle, wenn sich viele aufmerksame Bürger beim Ordnungsamt melden, um gezielte Hinweise auf Fehlverhalten in der Öffentlichkeit loszuwerden“, wie Stadtsprecherin Lenz einräumt.

Sogar unsere Redaktion erhält immer wieder Mails von Essenern, die etwa „eine Gruppe von sechs Personen eng beieinander durch den Stadtteil laufen“ gesehen haben und dies öffentlich machen wollen. Spazierende Grüppchen und Menschen mit vermeintlich unsolidarisch-vollen Einkaufswagen werden zunehmend misstrauisch beäugt.

Schlägt in der Coronakrise die Stunde der Denunzianten?

Schlägt nun also gleichermaßen die Stunde der hilfsbereiten Nachbarn und der selbsternannten Hilfssheriffs? Die einen kümmern sich um die Hilfsbedürftigen, die anderen stellen Fotos von Leuten ins Netz, die sich möglicherweise falsch verhalten, wieder andere machen gar beides.

„Die Meldung von Auffälligkeiten an Behörden entspricht zunächst der eigenen Wahrnehmung und Beurteilung einer möglichen Gefahrensituation. Gerade in einer neuen Situation ist die Einschätzung einer Gefahr objektiv schwierig und kann zwischen den Menschen erheblich variieren“, sagt Elmar Busch, Psychotherapeut aus Rüttenscheid. Dabei könnten eigene Ängste eine große Rolle spielen, z.B. vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus, erklärt Busch.


Der Psychotherapeut betont, dass es die eine richtige Antwort auf die Frage nach der Motivation der Hinweisgeber nicht gibt, weiß aber auch zu berichten, dass es „natürlich auch Persönlichkeiten mit übertriebenem Ordnungssinn und sogar zwanghaftem Denken gibt.“ Diese würden dann auch mal schnell zum Telefon greifen, um Regelbrecher zu melden.

Die Behörden könnten das Meldeverhalten indes auch selber steuern, „indem sie der Öffentlichkeit eine Rückmeldung geben, was für sie hilfreich ist“, so Busch.

Soziologen sprechen von „sozialer Kontrolle“


„Soziale Kontrolle“ heißt es bei den Soziologen, wenn das Umfeld uns auf Linie bringt, wenn sich eine Gesellschaft durch Feedback und Beobachtung darauf einigt, was „erwünschtes Verhalten“ und was „abweichendes Verhalten“ ist. Bisher war es beispielsweise erwünscht, sich in der Öffentlichkeit eher in Ruhe zu lassen. „Die übliche Form der Interaktion besteht gerade in Städten darin, aneinander vorbeizugehen“, erklärte Jan Wehrheim, Soziologe an der Uni Duisburg-Essen jüngst in einem Artikel in der Zeit.

Aber diesmal hatte niemand Zeit, in diese neue Welt hineinzuwachsen, das erkläre die große Unsicherheit. „Es ist immer schwieriger, sich an Regeln zu halten, die man noch nicht verinnerlicht hat“, sagt Wehrheim. Nun probiert man aus. Die meisten sind dabei getrieben von der Sorge um die eigene Gesundheit oder dem Willen, bei der Eindämmung der Epidemie zu helfen. Manche lassen aber auch ihren inneren Ordnungsdrang freien Lauf. „Und es gibt Menschen, die sich persönlich stärker fühlen, wenn Sie andere beschimpfen. Das resultiert meist aus einem schwachen Selbstbewusstsein“, so Psychotherapeut Elmar Busch.