Essen. Zur Kür ihrer Rats-Kandidaten demonstriert die SPD Geschlossenheit wie noch nie, doch der Streit um Karnap beschert Ärger – und 18 Austritte.

Das Mittelchen zur Handdesinfektion am Saal-Eingang, es hängt dort eigentlich immer, versichert der Awo-Chef. Aber an diesem Nominierungs-Samstag könnte es nicht gelegener kommen. Denn bei der Kandidatenkür der Sozialdemokraten zur Kommunalwahl geht es, na ja, „etwas kuschelig“ zu, wie Parteichef Thomas Kutschaty einräumt.

Er meint damit die drangvolle Enge im Kurt-Schumacher-Seniorenzentrum in Überruhr, einige Gäste müssen mit Stehplätzen Vorlieb nehmen, und dennoch herrscht eine gelöste Stimmung wie auf einer Ansteckungsparty. Die Genossen, sie wollen einfach glauben, dass bei Corona wie bei der Wahl im September am Ende alles schon nicht so schlimm kommt. Viel Harmonie also, aber der Erreger ist schon im Saal.

Die sozialdemokratische Basis lässt sich ungern Kandidaten „von oben“ vorschreiben

Er kommt in Gestalt des Karnaper Ratsherrn Michael Schwamborn, der nach 14 Jahren beim Essener Bürger Bündnis (EBB) 2018 zu „seiner“ alten SPD überlief. Und der nun Stephan Duda, dem vom Ortsverein nominierten Genossen, die Kandidatur streitig machen möchte. Es ist stadtweit die einzig strittige Bewerbung – und eigentlich eine Art Sakrileg, weil die Sozialdemokraten an der vielzitierten Basis sich äußerst ungern von oben reinreden lassen, wen sie da für die Wahl aufstellen.

Drangvolle Enge im Saal des Kurt-Schumacher-Seniorenzentrums in Überruhr: Man wolle, so hieß es bei der SPD, das Geld lieber für einen guten Wahlkampf ausgeben als für komfortable Konferenzbedingungen.
Drangvolle Enge im Saal des Kurt-Schumacher-Seniorenzentrums in Überruhr: Man wolle, so hieß es bei der SPD, das Geld lieber für einen guten Wahlkampf ausgeben als für komfortable Konferenzbedingungen. © FFS | Julia Tillmann

Aber keine Regel ohne Ausnahme, und als ein paar Minuten später die Stimmen ausgezählt werden, muss Duda sich schwer enttäuscht geschlagen geben. Mit 60:80 verliert der Vorsitzende von 122 Karnaper Sozialdemokraten gegen Schwamborn, und während der Sieger „überglücklich“ triumphiert, trudeln bei Duda die Austritte ein: Nicht weniger als 18 Genossen schmeißen nach seiner Auskunft binnen zwei Stunden nach der Nominierung ihre Parteibücher hin. „Und da kommen noch einige dazu!“ Duda selbst? Weiß noch nicht so recht.

Um die 16 Direktmandate gelten als sicher, den Rest muss die Reserveliste richten

Es sind dies die einzigen vernehmbaren Misstöne in einem ansonsten ungekannt harmonischen Wahlreigen, bei dem die SPD-Kandidaten für Rat und Bezirksvertretungen größtenteils en bloc gekürt werden.

Keineswegs eine Selbstverständlichkeit, denn legt man den Bundestrend und das Essener Ergebnis zur Europawahl zugrunde, dann bröckelt die alte Besenstiel-Theorie sozialdemokratischer Hochburgen („Ist doch egal, wen wir da aufstellen, wir gewinnen eh“) immer weiter. Um die 16 Direktmandate gelten noch als halbwegs sicher, den Rest muss die Rats-Reserveliste richten, die Ingo Vogel anführt.

Die Kommunalwahl – für SPD-Chef Thomas Kutschaty der „Ernstfall der Demokratie“

Der Fraktionsvorsitzende im Rat, Kandidat in Huttrop, kommt womöglich nur über die Liste ins Stadtparlament, ebenso der Nachwuchs aus der Juso-Riege: Romina Eggert und Julia Jankovic oder Caner Aver, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Türkeistudien die gute Absicherung auf Listenplatz 5 dem Umstand verdankt, dass er zur „Zielgruppe“ gehört, wie die Genossen es formulieren. SPDler mit Zuwanderungsgeschichte einzubinden, das hat bei den Genossen nämlich noch nicht so richtig hingehauen.

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Es ist aber einer von mehreren gezielten Kontrapunkten der SPD gegen die AfD: Denn hier auf kommunaler Ebene gehe es um den „Ernstfall der Demokratie“, wie SPD-Chef Kutschaty mahnt: Und da „erwarten wir eine harte und klare Abgrenzung zur AfD“, von der man sich auf keiner Ebene, nicht in Bezirksvertretungen und auch nicht im Rat, ins Amt wählen lassen wolle.

Michael Schwamborn will die AfD im Karnaper Stammland Guido Reils „entzaubern“

Dieser „Alternative für Deutschland“, die zuletzt dort besonders stark war, wo die SPD schwächelte, würden die Genossen im September nur allzu gerne zeigen, was eine Harke ist: stadtweit, schwerpunktmäßig im Norden, aber vor allem in Karnap, wo ihr einstiger SPD-Ratsherr Guido Reil mit wehenden Fahnen einst zur AfD überlief.

Auch daraus speist sich wohl der Kandidaten-Sieg des Michael Schwamborn: Dass man ihm – anders als Duda – zutraut, Reil vor Ort Paroli zu bieten. Ein symbolischer Zweikampf, der den 58-jährigen Elektromeister jedenfalls schon mächtig unter Strom setzt: „Ich werde die AfD im Wahlkampf entzaubern“, kündigte er den Genossen an.

Große Worte, an denen er sich wird messen lassen müssen, Schwamborn weiß das. Aber es ist wohl diese Haltung, die OB-Kandidat Oliver Kern meint, wenn er an die Sozis appelliert, sich nicht vom Verlierer-Virus anstecken zu lassen: „Lasst uns Attacke machen!“

Die SPD-Reserveliste für den Rat

Entscheidend für die SPD wird sein, wie ihre Direktkandidaten in den Kommunalwahlbezirken abschneiden. Erst danach greift die Reserveliste. Dies sind dort die 20 aussichtsreichsten Plätze:

01. Ingo Vogel
02. Julia Kahle-Hausmann
03. Rudolf Jelinek
04. Romina Eggert
05. Caner Aver
06. Julia Jankovic
07. Daniel Behmenburg
08. Janina Herff-Stammen
09. Hans-Ulrich Krause
10. Anke Löhl
11. Ulrich Malburg
12. Julia Klewin
13. Martin Schlauch
14. Jutta Pentoch
15. Philipp Rosenau
16. Michaela Heuser
17. Christian Kaiser
18. Susanne Gilbert
19. Benjamin Brenk
20. Heike Brandherm