Essen. Seit Jahren steht ein Schulgebäude in Essen-Schonnebeck schief. Kindern und Lehrern ist ständig schwindelig. Wie schlimm das ist? Ein Selbsttest.

Der Schrank steht schief. Steht er doch, oder? Draußen, die Häuser, die man aus dem Fenster sieht, die stehen schief. Stehen sie doch, oder? Die Bilder an der Wand im Schulflur über der Schülergarderobe, sorgsam gerahmt – die hängen doch alle schief. Oder?

Die Antworten lauten: Nein, nein und nein. Alles hängt und steht gerade vor, hinter und in der Schillerschule. Es ist das Gebäude selbst, das nicht im Lot ist. Willkommen an der Schillerschule, Essen-Schonnebeck, rund 250 Kinder verbringen hier täglich fast ganze Tage, von morgens sieben bis nachmittags um vier.

Die Bilder im Flur der Schillerschule in Essen-Schonnebeck hängen gerade, auch wenn das nicht so aussieht. Dafür ist der Flur – wie das gesamte Schulgebäude an der Immelmannstraße – schief.
Die Bilder im Flur der Schillerschule in Essen-Schonnebeck hängen gerade, auch wenn das nicht so aussieht. Dafür ist der Flur – wie das gesamte Schulgebäude an der Immelmannstraße – schief. © Martin Spletter | Martin Spletter

Schule schief: Schüler werden müde und unkonzentriert

Wer sich im Gebäude bewegt, hat ein Gefühl wie auf einem schwankenden Schiff. Man kippt weg. Oder hat das Gefühl, wegzukippen. Der Kopf muss das ausgleichen, der Gleichgewichtssinn. „Das macht auf Dauer unheimlich müde“, sagt die Schulleiterin. „Wie sollen Kinder da konzentriert lernen können?“

Nicole Brandenberg arbeitet seit 2014 an der Schillerschule. Das Problem des Schiefstands ist wesentlich älter. Die Stadt betont, dass seit 1984 nachweislich keine Verschlimmerung der Situation eingetreten ist. Der jahrzehntelange Schiefstand sei Folge von Bodenabsenkungen. Die Zeche Zollverein ist in der Nähe. Das Schulgebäude an der Immelmannstraße ist ein Altbau der Jahrhundertwende; er beherbergt die Schillerschule und die städtisch-katholische Johann-Michael-Sailer-Schule. Insgesamt 500 Kinder werden hier unterrichtet.

Schiefe Schule: Auch Lehrer leiden unter der Schieflage

„Bloß, weil ein Problem über Jahrzehnte besteht, kann es ja nicht dauerhaft so bleiben“, findet die Schulleiterin – und setzte vor Jahren einige Hebel in Bewegung, damit das Problem neu in den Fokus rückt – bei den zuständigen Behörden und in der Öffentlichkeit.

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Diese Redaktion berichtete Ende 2018 erstmals darüber, dass Eltern beklagen, ihre Kinder bekämen Kopfschmerzen in der Schillerschule, von Konzentrationsschwierigkeiten und einem steifen Nacken ganz zu schweigen. Zu diesem Zeitpunkt, Ende 2018, waren Unfallkasse und Bezirksregierung längst im Bild; der Betriebsärztliche Gesundheitsdienst hatte da schon angeordnet: Schwangere Pädagoginnen sollten nach Möglichkeit nicht mehr in den Schulen arbeiten. Anfang 2019 kamen Oberbürgermeister Thomas Kufen und Regierungspräsidentin Birgitta Radermacher persönlich vorbei.

Stadt verspricht: In den Osterferien wird provisorisch begradigt

Die Folge: Wie berichtet, wird die Stadt während der Osterferien jetzt in einigen Räumen von Schiller- und Sailerschule testweise Holzpodeste einbauen, um die Ebenen zu begradigen. Das ist mit einigem Aufwand verbunden, weil Waschbecken und Heizkörper angehoben, Fenster gesondert gesichert werden müssen, damit keine Schüler herausfallen.

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Nach der Maßnahme und einer kurzen Probephase soll schnell eine Entscheidung gefällt werden, wie es überhaupt weitergeht. „Langfristig“, sagt Schulleiterin Nicole Brandenberg, „ist nur ein Abriss der Gebäude denkbar.“ Derzeit läuft eine Debatte im Stadtteil, wo neuer Schulraum geschaffen werden könnte.

Bälle rollen von selbst über den Boden

Wenn man sich auf den Stuhl der Schulleiterin setzt, es ist ein schmaler Bürostuhl mit Rollen an den Füßen, dann setzt sich der Stuhl von selbst in Bewegung. Driftet ab in Richtung Fenster. Im Lehrerzimmer liegen Gummi-Fußbälle eingeklemmt unterm Garderobenhaken; wenn man einen Ball auf den Boden legt, rollt der Ball los in Richtung Fenster.

Das lange Lehrer-Regal an der Wand, in dem die Pädagogen ihr Material aufbewahren, ist bereits durch einen schrägen Holzsockel ins Lot gebracht. So gut wie alle Türen im Schulgebäude haben federgetriebene Schließmechanismen – Türen, die das nicht haben, schlagen entweder unkontrolliert zu oder öffnen sich selbst, so als ob Zugluft herrscht im Gebäude.

Das Schulgebäude an der Immelmannstraße in Essen-Schonnebeck steht schief: Die rund 500 Schüler der beiden ansässigen Schulen  Schillerschule (links) und Johann-Michael-Sailer-Schule (rechts) klagen über Schwindel und Kopfschmerzen.
Das Schulgebäude an der Immelmannstraße in Essen-Schonnebeck steht schief: Die rund 500 Schüler der beiden ansässigen Schulen Schillerschule (links) und Johann-Michael-Sailer-Schule (rechts) klagen über Schwindel und Kopfschmerzen. © FUNKE Foto Services | Linda Sonnenberg

Wegen Schieflage: Dreieckige Stifte in Essen-Schonnebeck

Wer einen runden Buntstift nimmt, ihn auf einen Tisch legt und nur leicht antippt, der kann dabei zusehen, wie der Stift von der Platte rollt und zu Boden fällt. „Wir raten auch deshalb zu dreieckigen Stiften“, sagt die Schulleiterin. Längst haben sie Warn-Dreiecke selbst gemalt und in die Treppenhäuser und Flure gehängt: „Achtung, Schieflage – bitte langsam gehen!“ Und als Illustration den Schiefen Turm von Pisa hinzugezeichnet. Der Schiefe Turm von Pisa hängt vier Meter aus dem Lot. Beim Schulgebäude in Schonnebeck sind es 1,70 Meter Höhenunterschied, gerechnet auf die Gebäudebreite von etwa 60 Metern. Macht einen Neigungswinkel von knapp drei Grad. Klingt nicht viel, ist aber gefühlt wie permanenter Schwindel im Kopf. Und im Körper: Eltern berichteten bereits wiederholt von Unfällen im Treppenhaus.

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Die beiden Grundschulen an der Immelmannstraße in Schonnebeck sind nicht die einzigen Essener Schulen, die schiefstehen. Betroffen ist auch die Realschule an der Gelsenkirchener Straße direkt gegenüber von Zollverein oder das Gymnasium Nord-Ost und manche andere mehr. Doch womöglich sind die Zustände nirgendwo so krass wie in Schonnebeck. Und vor allem sind junge Kinder betroffen in Schonnebeck, anderswo sind es Jugendliche. Auch, wenn das die Sache nicht wirklich besser macht.