Essen. Mehr als 30 Prozent der Bedürftigen, die bei der Essener Tafel für Lebensmittel anstehen, sind im Seniorenalter. Tendenz steigend.

Brigitte van Eenenaam ist 72 Jahre alt. Früher habe sie als Medizin-Journalistin gearbeitet, erzählt sie. Ihr Alter sieht man ihr nicht an. Und auch nicht, dass sie von Grundsicherung lebt. „Ich stehe mitten im Leben“, sagt sie. Damit sie sich mal eine Tasse Kaffee mehr leisten könne, stehe sie an der Essener Tafel für Lebensmittel an. So ergeht es vielen Senioren.

„Wir merken, dass viel mehr Rentner zu uns kommen“, bestätigt Jörg Sartor, der Vorsitzende der Essener Tafel, die vor nunmehr 25 Jahren gegründet wurde. Damals als ein Projekt des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF). Gesucht wurden Ehrenamtliche, die dabei helfen, Lebensmittel, die in Supermärkten und Geschäften übrig geblieben waren, an Bedürftige zu verteilen. Das ist bis heute der Zweck des eingetragenen Vereins. Dessen Klientel aber hat sich verändert.

Die 69-Jährige war Bürokauffrau. Dann kamen die Kinder. Nun reicht die Rente nicht

„Es kommen kaum noch Familien mit Kindern, dafür aber immer mehr Einzelpersonen, vor allem Rentner“, berichtet Jörg Sartor. Deren Anteil unter den Kunden schätzt der Tafel-Chef mittlerweile auf 30 Prozent. Es seien vor allen Dingen Frauen, die sich bei der Tafel mit Lebensmitteln versorgen, weil die Rente nicht reicht.

Die 69-jährige Seniorin mit dem Kurzhaarschnitt, die weiter hinten in der Schlange am Huttroper Wasserturm steht, ist eine von ihnen. Bürokauffrau war sie von Beruf. Als dann die Kinder kamen, habe sie aufgehört zu arbeiten. „Für die Rente fehlen deshalb 18 Jahre“, erzählt sie.

„Früher war es doch verpönt, dass Frauen arbeiten“, erinnert sich Jörg Sartor an die Zeit, als er auf Zeche Fritz als Steiger malochte. „Ich kann mich nicht an nur eine Frau in der Nachbarschaft erinnern, die gearbeitet hätte.“ Ihre Männer hätten es auch gar nicht geduldet. „Das hätte ja bedeutet, dass sie ihre Familien nicht alleine ernähren können.“

Auch die Hochzeiten der Arbeitslosigkeit machen sich bei der Essener Tafel bemerkbar

Die Rolle der Frau in der Gesellschaft ist heute eine andere. Wer zur Generation der Mütter gehört, muss aber häufig sehen, wie sie über die Runde kommt. „Es kommen die Jahrgänge der nicht-berufstätigen Frauen“, bestätigt Jörg Sartor. Auch die Zeiten der Massenarbeitslosigkeit machen sich bemerkbar. Wolfgang (64) war Maler und Lackierer bis die Bandscheiben nicht mehr wollten. Seit vier Jahren gehe er regelmäßig zur Tafel. „Beim ersten Mal war das schwer.“ Inzwischen habe er sich dran gewöhnt. „Ich bin nichts Besseres und auch nichts Schlechteres“, sagt er noch. Es geht auch darum, Würde zu bewahren.

Die Essener Tafel

Die Essener Tafel betreibt neben der Zentrale im Huttroper Wasserturm an der Steeler Straße elf Außenstellen. Der eingetragene Verein versorgt nach eigenen Angaben bis zu 6000 Personen mit Lebensmitteln, die sonst im Abfall landen würden. 70 Ehrenamtliche sorgen dafür, dass es dazu nicht kommt. Anfangs sammelten die ehrenamtlichen Helfer die Spenden von Geschäften und Supermärkten noch mit dem eigenen Pkw ein. Längst verfügt die Tafel über einen eigenen Fuhrpark.

Niemand muss zur Tafel gehen. Niemand würde verhungern. Jörg Sartor wird nicht müde, dies zu betonen. Es gebe viele Gründe, warum die Rente nicht reicht. Selbst verschuldete und unverschuldete. Und es kommen auch Menschen zur Tafel, weil sie einsam sind und Kontakt zu anderen suchen, nicht weil sie auf die Lebensmittel angewiesen wären.

Und doch lässt sich nicht leugnen, dass die Altersarmut wächst. Nach Angaben der Stadt bezogen 6742 Personen Grundsicherung im Alter (Stand Ende 2018). Die Essener Tafel hat längst reagiert. Wer zur Tafel geht, muss zu nach einem Jahr eine Pause einlegen. Wer 60 Jahre oder ist älter, für den gilt das nicht mehr.