Essen. Nach über einem halben Jahrhundert gehen die katholische und die evangelische Telefonseelsorge in Essen zusammen. Im Jahr gibt’s 25.000 Anrufe.
Es ist eine Fusion, die mit Fingerspitzengefühl gehändelt werden muss: Seit Jahresanfang arbeiten die Evangelische Telefonseelsorge Essen und ihre katholische Schwester zusammen. Wer die gewohnten Nummern wählt, landet nun bei der Telefonseelsorge Essen. Bundesweit sind längst die allermeisten Telefonseelsorge-Angebote ökumenisch, Essen ist also Nachzügler. Oder wie es die neue Leiterin Elisabeth Hartmann formuliert: „Das Einzigartige ist, dass wir in Essen nach so langer Zeit doch noch zusammenfinden.“
„Die dachten, die Katholiken beten vor der Arbeit“
59 Jahre lang gab es die katholische Telefonseelsorge, 54 Jahre lang die evangelische, da haben sich Gepflogenheiten gebildet, vielleicht auch Vorurteile. So erzählt Elisabeth Hartmann, dass einige Protestanten davon ausgingen, „dass die katholischen Seelsorger vor der Arbeit beten“. Was sie nicht tun. Die Schichten wiederum waren für die evangelischen Mitarbeitern länger, so dass es nun unterschiedlich lange Schichten gibt: tagsüber zwischen vier und fünfeinhalb Stunden, nachts zwischen acht und neun Stunden.
„Von den Dienstplänen bis zur Wertschätzungskultur hatten sich Unterschiede entwickelt“, sagt Elisabeth Hartmann. „Und dann muss die andere Seite erstmal verkraften, dass die neue Leiterin katholisch ist.“ Die ausgebildete Gemeindereferentin hatte seit 2005 für die katholische Telefonseelsorge gearbeitet, auf halber Stelle. Nun rückt sie mit 60 Jahren in Vollzeit auf die Leitungsfunktion: „Ich habe noch sechs Jahre Zeit, um etwas zu gestalten.“
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Der Zeitpunkt für diesen Schritt ist nicht zufällig, sondern bot sich an, nachdem die beiden bisherigen Leiter im Abstand von etwa einem halben Jahr in Ruhestand gingen. Elisabeth Hartmann arbeitet mit lediglich drei festangestellten Mitarbeiterinnen. Ihr eigentliches Team sind die 133 Ehrenamtlichen, die die Anrufe annehmen, die zuhören, verstehen, Trost spenden, Mut machen und Hilfe vermitteln.
Ehrenamtliche müssen kein Taufschein vorlegen – einen spirituellen Anker sollten sie aber haben
Sie waren bereits im Jahr 2014 räumlich zusammengerückt, arbeiteten auf einer Etage: eine Art WG aus der nun mehr werde. „Das war der große Wunsch der Ehrenamtlichen, von denen ohnehin nicht alle die Konfession ihres Trägers hatten.“ Auch ein Muslim gehöre zum Team. Wer sich für die aufwendige Fortbildung zum Telefonseelsorger entscheidet, muss weder Taufschein noch Kirchensteuerbescheid vorlegen, aber einen „spirituellen Anker“ sollte er schon haben, sagt Elisabeth Hartmann.
Schon bisher hätten viele Menschen erst die eine Nummer gewählt und – wenn diese besetzt war – gleich danach die andere. „Für die Anrufer geht es nicht darum, dass da ein Katholik oder ein Protestant mit ihnen spricht, sondern ein Mensch“, betont der stellvertretende Superintendent Heiner Mausehund, der den Evangelischen Kirchenkreis als einen der beiden Träger des neuen Angebots vertritt.
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Um ein austauschbares Beratungsangebot, das auch bei jedem anderen Träger angesiedelt sein könnte, handle es sich aber auch nicht, ergänzt Essens Caritasdirektor Björn Enno Hermans für die katholische Seite: „Seelsorge ist nicht so zielorientiert wie eine Beratung, sondern sieht den ganzen Menschen in seiner existenziellen Not.“
25.000 Anrufe im Jahr bei der Telefonseelsorge Essen
Der Bedarf für diese Hilfe ist groß: Auf jedes Gespräch kämen fünf Anrufer, die nicht durchkommen; die Erreichbarkeit liege bei rund 19 Prozent und solle verbessert werden, sagt Elisabeth Hartmann. „Mancher stellt sich das bei uns vor wie im Callcenter.“ Tatsächlich gebe es nur zwei Leitungen. Gleichzeitig entwickelte sich nicht aus jedem der rund 25.000 Anrufe, die die beiden Telefonseelsorgen etwa im Jahr 2019 annahmen, ein Gespräch: Mancher Anrufer legt gleich wieder auf, andere schweigen in den Hörer.
25.000 Anrufe im Jahr bei der Telefonseelsorge in Essen
Seit 1. Januar 2020 ist aus der Evangelischen Telefonseelsorge Essen und der Katholischen Telefonseelsorge Essen die neue „Telefonseelsorge Essen“ entstanden. Sie wird ökumenisch getragen vom Kirchenkreis Essen und dem Caritasverband Essen und begleitet von einem gleichberechtigt besetzten Kuratorium. Außerdem gibt es einen ökumenischen Förderverein, der die Aus- und Fortbildung unterstützt.
Neben vier hauptamtlichen Mitarbeiterinnen (darunter die Leiterin), arbeiten dort 133 Ehrenamtliche, die im Jahr gut 25.000 Anrufe entgegennehmen. Die Telefonseelsorge betreut auch Hilfesuchende aus Bottrop, Gladbeck, Gelsenkirchen, Heiligenhaus und Velbert. Sie kooperiert zudem mit Wesel und Duisburg. Sie ist rund um die Uhr zu erreichen unter: 0800 1110111 und 0800 1110222.
Junge Menschen greifen oft erst gar nicht zum Telefon, die Generation WhatsApp meldet sich lieber per Chat oder Mail bei der Telefonseelsorge. Ein Bereich, für den man ebenso technik-affine wie sensible Mitarbeiter benötige: „Auf diesem Weg kommen häufiger die härteren Themen wie Gewalt, Missbrauch oder Suizidabsichten, da lastet eine hohe Verantwortung auf den Ehrenamtlichen“, so Hartmann. Die erste Antwort soll der Fragende nach spätestens drei Tagen erhalten, danach bleibt der Ehrenamtliche dran, betreut den – mit Nicknames geführten, gesicherten – Chat von der ersten bis zur letzten Nachricht.
Mitarbeiter brauchen mitunter viel Geduld
Mitunter müsse man in diesem Ehrenamt viel Geduld mitbringen, doch zum einen erhielten die Mitarbeiter regelmäßig eine Supervision, zum anderen bekomme man mehr zurück als man gebe. Also stand der Gottesdienst zur Einführung des neuen Teams an diesem Montag (27.1.2020) in der Erlöserkirche unter der zuversichtlichen Überschrift: „Neues wächst, siehst Du es schon“.