Essen. Die Arbeitsagentur sieht ein riesiges Arbeitskräfteproblem auf die Essener Wirtschaft zu kommen. Sie setzt daher auf das neue Zuwanderungsgesetz.

Trotz der weiterhin hohen Arbeitslosigkeit in der Stadt setzt die Arbeitsagentur in Essen in Zukunft auf den verstärkten Zuzug von ausländischen Fachkräften. „Wir brauchen diese Einwanderung“, betonte Andrea Demler, Chefin der Arbeitsagentur. Sie legt ihre Hoffnungen dabei in das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das im März 2020 in Kraft treten soll. Wirtschaftsvertreter in Essen sind allerdings skeptisch, ob das neue Gesetz den auch in Essen in manchen Branchen spürbaren Fachkräftemangel tatsächlich lindern wird.

Demler hat bei ihren Aussagen vor allem die demografische Entwicklung am Arbeitsmarkt in Essen im Blick. So wird jeder fünfte Arbeitnehmer in den kommenden zehn Jahren das 65. Lebensjahr vollenden und somit an den Ruhestand denken. Der ganz überwiegende Teil dieser Mitarbeiter, die bis dahin in Rente gehen, sind Fachkräfte oder gar höher qualifiziert. Besonders betroffen sind das Gesundheits- und Sozialwesen, der Handel und das verarbeitende Gewerbe. „Wo sollen diese Fachkräfte künftig herkommen?“, fragt Demler. „Das schaffen wir nicht mit Ausbildung und Qualifizierung in den Betrieben alleine“, ist sie überzeugt.

Unternehmensverband: Jedes zweite Mitglied klagt über Fachkräftemangel

Schon heute suchen einige Branchen Fachkräfte, finden aber kaum noch passende Mitarbeiter. In einer Umfrage des Essener Unternehmerverbandes stellte sich erst jüngst wieder heraus: Jedes zweite Mitgliedsunternehmen klagt über Fachkräftemangel. „Wir haben in vielen Fachberufen einen Mangel. Dieser konnte bisher mit Arbeitslosen insbesondere wegen deren mangelnder Qualifikation nicht behoben werden“, bekräftigte der Hauptgeschäftsführer des EUV, Ulrich Kanders. „Das neue Gesetz könnte Erleichterung bringen.“

In der Tat sind bei der Arbeitsagentur viele Stellen schon länger unbesetzt, weil es unter den Arbeitslosen keine geeigneten Personen dafür gibt. Als Beispiele nannte Demler spezielle Bereiche in der Informationstechnik und im Ingenieurswesen, aber auch in Teilen des Handwerks, in der Verkehrsbranche und vor allem im Gesundheitsbereich. „Im Sanitärhandwerk etwa wird jeder Mann und jede Frau gebraucht.“ Die Verkehrsbranche suche dringend Triebfahrzeugführer oder Busfahrer. Und in der Pflege sei mittlerweile auch der osteuropäische Markt schon abgegrast, so dass das Gesundheitswesen, wenn es das neue Fachkräfteinwanderungsgesetz nutzen möchte, schon in deutlich weiter entfernten Ländern sich umsehen müsste, so Demler.

Wirtschaft: Sprachkenntnisse bleiben das Wichtigste

Mit dem neuen Gesetz soll es qualifizierten Ausländern erleichtert werden, in Deutschland zu arbeiten. So dürfen Menschen mit einer qualifizierten Berufsausbildung nach Deutschland einwandern, wenn sie einen Arbeitsvertrag vorweisen können. Wer sich selbst finanzieren kann und qualifiziert ist, darf für sechs Monate zur Arbeitsplatzsuche einreisen. Bislang gab es diese Einreise nur bei Akademikern oder Fachkräften, deren Beruf auf einer Liste von Mangelberufen stand.

Dennoch gibt es in der Essener Wirtschaft auch Skepsis, ob ihr das Gesetz tatsächlich hilft, die Lücken in den Reihen ihrer Facharbeiter zu schließen. Denn unabhängig von der Qualifikation seien vor allem deutsche Sprachkenntnisse der Zuwanderer entscheidend, um hierzulande am Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein. „Das gleiche Problem haben wir ja bei den Flüchtlingen“, sagte der Hauptgeschäftsführer der Essener Kreishandwerkerschaft, Wolfgang Dapprich. Er ist außerdem skeptisch, was die Vergleichbarkeit der Abschlüsse angeht. „Die Ausbildung eines Sanitärhandwerkers in Ägypten sieht sicher anders aus als in Deutschland.“

Essener Wirtschaft erwartet keinen Ansturm

Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz

Mit dem Gesetz, sollen Fachkräfte aus dem Ausland gelockt werden. Nach Schätzung der Bundesregierung werden durch die neuen Regeln pro Jahr etwa 25 000 Fachkräfte zusätzlich nach Deutschland kommen.

Als Fachkräfte gelten sowohl Akademiker mit einem in Deutschland anerkannten Hochschulabschluss als auch Arbeitskräfte mit einer qualifizierten, in Deutschland anerkannten Berufsausbildung.

Neu ist: Wer noch keinen Arbeitsvertrag hat, aber eine qualifizierte Berufsausbildung nachweisen kann, bekommt eine Aufenthaltserlaubnis für sechs Monate, um eine Stelle zu finden. In dieser Zeit können Arbeitssuchende bis zu zehn Wochenstunden auf Probe arbeiten oder ein Praktikum absolvieren, Voraussetzungen sind gute Deutschkenntnisse auf B2-Niveau und genug Geld für den Lebensunterhalt.

Bisher prüfte die Bundesagentur für Arbeit, ob es für eine Stelle passende Bewerber aus Deutschland oder der EU gibt, bevor ein Unternehmen eine Fachkraft aus einem anderen Land einstellen durfte. Diese Vorrangprüfung entfällt.

Die Zuwanderung von Fachkräften aus Nicht-EU-Staaten ist nicht dann mehr auf definierte „Mangelberufe“ beschränkt.

Die Vergleichbarkeit der Abschlüsse ist neben der Sprache auch aus Sicht der hiesigen Industrie- und Handelskammer (IHK) ein großes Problem. „In den allermeisten Ländern gibt es kein duales Ausbildungssystem wie bei uns“, sagte IHK-Geschäftsführer Franz Roggemann. „Und nur die Anerkennung eines Zeugnisses bedeutet noch lange nicht, dass jemand eine Fachkraft ist.“

Zwar glauben weder Kreishandwerkerschaft noch IHK, dass in den nächsten Monaten die arbeitssuchenden Ausländer hier Schlange stehen werden. Dennoch begrüßt die Essener Wirtschaft generell die erleichterte Einwanderung. „Die Türen im Handwerk sind offen“, sagte Dapprich. Auch Kanders meinte: „Es ist gut, dass wir in Deutschland mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz nun ein klares Bekenntnis der Politik dazu haben, dass wir Arbeitsmigration wollen.“