Essen. Ob eine Uhr steht oder ein Zeiger auf die Straße fällt: Zeitdienst Sorge kommt. Die Borbecker Firma baut auch moderne Zeitzentralen für Flughäfen.

Das Jahr 2019 geht zu Ende, und immer wieder hört man diesen Satz: Wie schnell das Jahr vergangen ist, wie sehr die Zeit rast. Soweit die gefühlte Zeit. Günter Budzyn misst Zeit, sorgt dafür, dass Uhren exakt gehen, dass an Kirchtürmen, in Bahnhöfen, auf Flughäfen, in Schulen, Fabrik- und Schalterhallen eine Sekunde so lang ist wie die andere. Der Elektrotechniker hat 1972 bei „Zeitdienst Sorge“ angefangen, ging 2013 offiziell in Rente – und ist bis heute Vertriebsleiter und „Uhrgestein“ der Borbecker Firma.

Budzyn ist 1948 geboren, just in dem Jahr, als Walter Sorge seinen Zeitdienst gründete. Drei Jahre nach Kriegsende stand die Zeit in Essen noch still: Öffentliche Gebäude waren beschädigt oder zerstört, Uhren stehengeblieben oder ihrer Zeiger und Zifferblätter beraubt. Die neu gegründete Firma erhielt den Auftrag für eine Uhrenzentrale im alten Rathaus am Kennedyplatz: ein mächtiges Möbel mit Pendeluhren und zahlreichen Kontrolluhren, das die öffentlichen Uhren in ganz Essen steuerte.

Manipulation der Stempeluhr war möglich: „Der Chef konnte das Pendel anhalten.“

Um vom Rathaus ein Signal in alle Stadtteile zu senden, nutzte man das gut ausgebaute Kabelnetz der Feuermelder. In der Eyhof-Siedlung im Stadtwald steht noch eine der damals typischen Uhrensäulen, am Deutschlandhaus in der Innenstadt findet sich eine der letzten Uhren aus dieser Zeit. Die Uhrenzentrale selbst schmückt seit 15 Jahren das Foyer der Firma Sorge in Borbeck. „Sie ist noch immer funktionstüchtig“, betont Günter Budzyn.

Montagearbeiten in luftiger Höhe an der Uhr der Funke-Stiftung in Essen.
Montagearbeiten in luftiger Höhe an der Uhr der Funke-Stiftung in Essen. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Das Prinzip der Mutteruhr, die über Drähte untergeordnete Uhren ansteuert, habe sich früher auch in jedem Kaufhaus gefunden, „damit alle Uhren im Haus dieselbe Zeit anzeigten“. Stempeluhren wiederum hätten schon früh in Fabriken und Zechen die Arbeitszeit erfasst. Bevor es überall eine vereinheitlichte Zeit gegeben habe, seien Manipulationen allerdings möglich gewesen, erzählt Budzyn. „Der Chef konnte das Pendel anhalten.“ So dass die Uhren in einem Werk langsamer gingen als in einem anderen.

Der Flughafen Frankfurt ist ein Prestigeobjekt für die Firma

Heute geben 400 Atomuhren weltweit die Zeit vor, kommunizieren untereinander, synchronisieren sich. Über den Sender Mainflingen werden die Signale der Atomuhr in Braunschweig an Millionen funkgesteuerte Uhren in Europa gesendet – auch an den Flughafen Frankfurt. Gut ein Jahrzehnt ist es her, dass Zeitdienst Sorge dort eine neue Uhrenanlage installierte. Mit viel Computertechnik, peniblen Sicherheitsvorgaben, hochkompliziert. „Ein Prestigeobjekt“, schwärmt Budzyn. „Am Flughafen gibt es 2000 Uhren, die von zwei Uhrenzentralen angesteuert werden, die sich überwachen.“ Während die eine das Signal aus dem nahen Mainflingen erhält, kommt das andere vom Satellitennavigationssystem GPS.

Neben dem Planen digitaler Großanlagen gehören auch elektronische Zeiterfassung und Sicherheitstechnikzum Geschäftsmodell der Borbecker Firma. Noch immer befassen sich die 40 Mitarbeiter (anfangs waren es drei) auch mit der Reparatur und Wartung historischer Fassadenuhren.

Die Uhr am Gymnasium Werden hatte noch Einschusslöcher

Erst im vergangenen Jahr setzten sie die Uhr am Heisinger Rathaus nach Jahrzehnten wieder in Stand: in Absprache mit dem Denkmalamt – und mit Hilfe von Industriekletterern. Das sah nicht nur spektakulär aus: „Wir konnten so die Kosten für ein Gerüst sparen. Von unten haben wir dann unsere Anweisungen gegeben.“

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Budzyn kann von den Einschusslöchern in der Schuluhr des Gymnasiums Werden erzählen oder von den frisch vergoldeten Zeigern der historischen Uhr auf der Margarethenhöhe, „die wir mit Samthandschuhen montiert haben“. Der Minutenzeiger war am ersten Weihnachtstag 2018 auf den Kleinen Markt der Margarethenhöhe gestürzt und von Spaziergängern entdeckt worden. Als Budzyn davon hörte, rief er sofort bei der Stiftung Margarethenhöhe an und bekam den Auftrag. Er besuchte eigens eine Ausstellung über die Gartenstadt, um auf historischen Fotos zu überprüfen, ob die Uhr schon immer arabische Ziffern trug und keine römischen.

Im Foyer der Firma Zeitdienst Sorge präsentiert Günter Budzyn die  Uhren-Zentrale aus dem alten Essener Rathaus.
Im Foyer der Firma Zeitdienst Sorge präsentiert Günter Budzyn die Uhren-Zentrale aus dem alten Essener Rathaus. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

„Die meisten Menschen nehmen die Uhren nicht wahr. Es sei denn sie fehlen – oder sind kaputt.“ Damit nicht mal ein fallender Zeiger einen Passanten trifft, hat Budzyn angeregt, die Essener Fassadenuhren regelmäßig zu kontrollieren. Wenn er in der Stadt unterwegs ist, schaut er unwillkürlich, ob sie richtig gehen. Im Urlaub hält er an, wenn er eine interessante Uhr entdeckt. Seine Frau schimpfe, er zücke das Smartphone: „Ein Drittel meiner Urlaubsbilder zeigen Uhren.“

Die Mönche vom Heiligen Berg in Athos meldeten sich bei der Borbecker Firma

Auch bei Anfragen aus dem Ausland lasse er sich Fotos schicken: Etwa als die Uhr an der Kapelle auf der griechischen Insel Athos stehenblieb. Budzyn hätte gern eine Dienstreise nach Griechenland gemacht, doch die Mönche ließen sich die Ersatzteile zuschicken und montierten diese selbst. „Jetzt laufen mit unseren Uhrwerken die Uhren am Heiligen Berg Athos.“ In den 1980er Jahren habe man noch einmal Pendeluhren gebaut und in die Vereinigten Arabischen Emirate geschickt, weil die zunächst gewünschten Quarzuhren das Klima nicht vertragen hatten. Aus Polen sei später der Wunsch nach einer Rathausuhr mit digitalem Glockenschlag gekommen.

Bei der ersten Sommerzeit-Umstellung waren sie eine Woche unterwegs, stellten Kirch- und Schuluhren um

Günter Budzyn erinnert sich an die erste Umstellung auf die Sommerzeit, als sein Team per Hand öffentliche Uhren, Kirchenuhren und Zeiterfassungen umstellte: „Da waren wir eine Woche unterwegs.“ Die Jahrtausendwende-Umstellung sei – anders als von vielen befürchtet – dagegen problemlos verlaufen.

Die größte Uhr bauten sie für das Kunstwerk „Die Macht der Zeit“ des Japaners Tatzu-Nishi: Sie hatte einen Durchmesser von sieben Metern, der Minutenzeiger wog 63 Kilogramm – eine Installation für das Rathaus Paderborn, die nur acht Wochen hing.

Schmuckstück: Diese Stechuhr aus dem Jahr 1900 gehört zu der kleinen Ausstellung, die der Zeitdienst Sorge in seiner Essener Firmenzentrale präsentiert.
Schmuckstück: Diese Stechuhr aus dem Jahr 1900 gehört zu der kleinen Ausstellung, die der Zeitdienst Sorge in seiner Essener Firmenzentrale präsentiert. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Und einmal brachen sie eiligst zu einer Uhrreparatur nach Bremerhaven auf: Einsatzort war ein Containerschiff, das schon acht Stunden später auslaufen sollte. Es ist also keineswegs so, dass Budzyn und seine Kollegen nicht wüssten, wie sich das anfühlt, wenn die Zeit rast. „Manchmal stehen wir im grünen Kittel mit Ersatzuhr vor einem Operationssaal, flitzen zwischen zwei OPs rein, tauschen die Uhr aus, rennen wieder `raus.“

Günter Budzyn trägt eine Armbanduhr und hat zu Hause verschiedene Uhren, von denen bis zu vier gleichzeitig schlagen. Dabei brauche er keine von ihnen: Er vertraue auf seine innere Uhr, wache stets zur gewünschten Zeit auf und komme immer rechtzeitig. „Das ist vielleicht eine Macke. Aber wer Zeit verkaufen will, der sollte pünktlich sein.“

Diese Brandmeldezentrale von etwa 1950 stammt aus dem ehemaligen Amerikahaus in Essen. Auch sie wird heute bei Zeitdienst Sorge gezeigt.
Diese Brandmeldezentrale von etwa 1950 stammt aus dem ehemaligen Amerikahaus in Essen. Auch sie wird heute bei Zeitdienst Sorge gezeigt. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos