Essen. Bürgerinitiativen verlangen eine Wende in der Wohnungsbaupolitik in Essen. Landesbauministerin Ina Scharrenbach hält dagegen.
In einem offenen Brief fordern mehrere Bürgerinitiativen und Interessengemeinschaften Oberbürgermeister Thomas Kufen zu einer Wende in der Stadtplanungs- und Baupolitik auf. Die Unterzeichner verweisen dabei auf die Proteste der vergangenen Monate gegen die Bebauung von Freiflächen sowie auf die zahlreichen Unterschriftenlisten, die Kufen von Bürgern deshalb übergeben wurden. Dem OB dürfte nicht entgangen seien, dass viele Bürger mit der Stadtplanungs- und Baupolitik unzufrieden sind, heißt in dem Schreiben. Stadtübergreifend hatten Bürgerinitiativen nach eigener Rechnung 16.749 Unterschriften gesammelt.
Einmal mehr nehmen die Unterzeichner Anstoß an dem von der Stadt initiierten Bürgerforum „Wo wollen wir wohnen“. Das von der Verwaltung gewählte Verfahren sei fragwürdig. Die Ergebnisse seien den Bürgern als repräsentative Bürgerbeteiligung vorgegaukelt worden. Diese umzusetzen, würde Lebensqualität kosten.
Der geringe Einwohnerzuwachs rechtfertige keine massive Bebauung von Freiflächen
Auch die statistischen Annahmen auf deren Grundlage die Teilnehmer des Bürgerforums Empfehlungen über mögliche Neubaugebiete ausgesprochen haben, ziehen die Bürgerinitiativen in Zweifel. Der geringe Einwohnerzuwachs rechtfertige keine massive Bebauung von Freiflächen, die für die Umwelt und das Stadtklima von großer Bedeutung seien.
Oberbürgermeister Kufen solle deshalb klarstellen, dass Landschaftsschutzgebiete nicht angetastet und Siedlungsränder nicht auf Kosten von Freiflächen erweitert werden. Bei der Stadtplanung sei dem Klimaschutz höchste Priorität einzuräumen. Freiluftschneisen seien zu erhalten.
Oberbürgermeister Kufen stellt sich hinter das Bürgerforum „Wo wollen wir wohnen?“
Auf einer Veranstaltung des Arbeitskreises Essen 2030 am Montagabend in der Sparkasse Essen stellte sich der Oberbürgermeister ausdrücklich hinter das Bürgerforum. Kufen gestand aber ein: „Vielleicht hätte man den Teilnehmern mehr Zeit einräumen müssen.“ Der OB betonte: „Wir müssen bauen. Wir werden auch bauen.“ Kufen mahnte aber auch, dabei behutsam vorzugehen: „Wir müssen aufpassen, dass – wenn wir zu viel wollen – nicht alles verlieren.“
Als Ergebnis des Bürgerforums sollen sieben von 93 Flächen für den Wohnungsbau ausgewiesen werden, was Ulrich Kapteina, den Sprecher des Arbeitskreises Essen 2030, zu der provokanten Frage veranlasste, ob dies ein Ergebnis der Bürgerproteste sei. Keine der sieben Flächen steht unter Landschaftsschutz. Von 13 weiteren Flächen, die Oberbürgermeister Kufen gerne als mögliche Wohnbauflächen intensiver geprüft sähe, gilt dies für vier. Die Politik möchte die Flächen unberührt lassen.
Der Wohnungsbedarf wird sich durch die Bebauung nicht decken lassen
Der von der Verwaltung ermittelte Wohnungsbedarf wird sich durch die Bebauung der sieben ausgeguckten Flächen nicht decken lassen. Rechnerisch könnten insgesamt 2350 neue Wohnungen entstehen. 1750 davon auf einem 29,4 Hektar großen Areal an der Stauderstraße in Altenessen, das größtenteils von der Firma Helf Automobil-Logistik belegt ist. Das Unternehmen müsste verlagert werden. Wohin, bleibt offen. De facto steht die Fläche gar nicht für eine Bebauung zur Verfügung.
Nach Berechnung der Planungsverwaltung fehlen in Essen aber Flächen für 5000 bis 9000 Wohnungen. Michael Happe, in Werden ansässiger Stadtplaner und Kritiker der städtischen Wohnungsbaupolitik, hält dies für überzogen. Der tatsächliche Bedarf ließe sich auf vorhandenen Baugrundstücken decken, etwa durch die Bebauung von Baulücken. Bürgerinitiativen, wie auch Linke und Grüne fordern deshalb die Fortschreibung eines Baulückenkatasters durch die Verwaltung. „Der Markt ist besser und schneller“, entgegnete Oberbürgermeister Kufen am Dienstagabend beim Arbeitskreis 2030.
Derweil geht der Bestand an öffentlich gefördertem Wohnraum in Essen weiter zurück. 2018 unterlagen noch rund 18.000 von insgesamt 320.000 Wohnungen der Mietpreisbindung. Tendenz fallend. Dass sich genügend günstiger Wohnraum allein durch die Bebauung von Baulücken schaffen ließe, gilt aus Sicht der Wohnungswirtschaft als ausgeschlossen. Benötigt würden vielmehr größere Flächen, die eine Mischkalkulation aus frei finanzierten und öffentlich geförderten Wohnungen erlauben. Denn das Bauen wird immer teurer. Nach günstigem Wohnraum rufen und gleichzeitig die energetischen Standards erhöhen, das passe nicht zusammen, sagte Landesbauministerin Ina Scharrenbach (CDU) an die Adresse der Grünen im Saal.
Die Unterzeichner
Den offenen Brief an Oberbürgermeister Kufen haben unterzeichnet: Die Initiative BürgerAktion Bochold, die Bürgerinitiative „Finger weg von Freiluftflächen“ aus Haarzopf, die Bürgerinitiative „Rettet den Klostergarten“ aus Bedingrade, die Initiative „Rettet Rüttenscheid“, die Interessengemeinschaft Ickten, der Nachbarschaftskreis Bögelsknapen aus Kettwig, die Initiative „Rettet die Katernberger Grünflächen“ und die Bürgerinitiative „Rettet die Schönebecker Grünflächen“. Unterstützt werden sie von den „Parents for Future“ und Transition Town.
Im Arbeitskreis Essen 2030 engagieren sich an Stadtplanung interessierte Bürger. Der Arbeitskreis berät die Politik auf deren Wunsch in Gestaltungsfragen.
Auch Bauland wird immer wertvoller; seit 2010 legten die Preise nach Angaben der Verwaltung um 29 Prozent zu, Wohnungseigentum verteuerte sich um 34 Prozent. Wer eine Wohnung zur Miete sucht, muss sich in Geduld üben. Nicht einmal zwei Prozent der Wohnungen stehen leer.
„Wir werden bauen müssen. Dafür brauchen wir Flächen“, sagte Scharrenbach. Die Frage, wo gebaut werden kann, wird sich wieder stellen.