Essen. Dieser Protest war unübersehbar: Mit 800 Traktoren rollten demonstrierende Bauern am Montag durch Essen. Am Straßenrand gingen viele Daumen hoch.

Für teilweise chaotische Verhältnisse auf den Essener Straßen sorgte am Montag der Protest der Bauern, die zwischen 12 Uhr mittags und dem späten Nachmittag mit fast 800 Traktoren wichtige Verkehrsachsen der Stadt lahmlegten. Der Feierabend-Verkehr kollabierte stellenweise. Trotzdem erfuhren die wütenden Landwirte, die gegen die Agrarpolitik der Bundesregierung demonstrieren, viel Zuspruch von der Großstadt-Bevölkerung. „Menschen am Straßenrand applaudierten, oft ging der Daumen hoch, ich habe keinen einzigen Stinkefinger gesehen“, sagt der junge Landwirt Christoph Schemmer aus dem münsterländischen Reken.

Die imposanten Demo-Konvois erreichen Essen aus zwei Himmelsrichtungen. 200 Trecker sind morgens um 9.30 Uhr in Raesfeld (Münsterland) losgefahren und rollen bereits um kurz vor zwölf Uhr über die B224 im Essener Norden. Fast die dreifache Zahl an Treckern, rund 600, trifft aus der Landeshauptstadt Düsseldorf kommend um kurz vor 14 Uhr im südlichen Essen ein.

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Von Kettwig aus nimmt dieser Konvoi über die Meisenburg- und Alfredstraße (B224) Kurs auf die Nordstadt, um sich dort – Westfalen trifft Rheinland – mit dem Münsterland-Konvoi zu vereinigen.

Auf den Treckern steht: „Vergesst nicht, wir machen euch satt“

200 Trecker rollen am Montag über die Gladbecker Straße (B224) in Richtung Berthold-Beitz-Boulevard.
200 Trecker rollen am Montag über die Gladbecker Straße (B224) in Richtung Berthold-Beitz-Boulevard. © Gerd Niewerth

Der vom Netzwerk „Land schafft Verbindung“ organisierte Bauernprotest präsentiert seine Botschaften auf großen Transparenten an den Treckern. „Vergesst nicht, wir machen euch satt“, ist darauf zu lesen. Oder: „Ohne Bauern keine Zukunft“, „No Farm, No Food, No Future“ und „Ihr entscheidet am Regal“.

Marcel Paschinski (40), Chefkoch im alteingesessenen elterlichen Altenessener Restaurant Bückmanns Mühle“, macht aus seiner Sympathie für die demonstrierenden Bauern kein Hehl. „Diese Demo ist richtig, denn sie weckt auf, und jeder schaut hin.“ Die beeindruckende Vorbeifahrt der 200 Trecker verfolgt er mit seiner Küchencrew auf der Gladbecker Straße in Höhe des Restaurants Holly Wok Buffet, montags hat sein Restaurant Ruhetag.

Die Geiz-ist-geil“-Mentalität des Verbrauchers setze auch der Gastronomie empfindlich zu, fügt Paschinski hinzu. „Alles soll billig sein, der Kunde will das Schnitzel für fünf Euro, dafür soll das Fleisch aber bitte sehr aus der Kalbsoberschale kommen.“

Landwirt: „Mischbetriebe müssen sich mit praxisfremden Verordnungen ‘rumschlagen“

Sympathie für Bauern: Jung-Landwirt Christoph Schemmer aus dem münsterländischen Reken und seine Kollegen bekamen unterwegs viel Beifall. „Oft ging der Daumen hoch.“   
Sympathie für Bauern: Jung-Landwirt Christoph Schemmer aus dem münsterländischen Reken und seine Kollegen bekamen unterwegs viel Beifall. „Oft ging der Daumen hoch.“   © Gerd Niewerth

Nur noch 60 landwirtschaftliche Vollerwerbsbetriebe gibt’s in der Dienstleistungsmetropole Essen, die meisten Höfe liegen im ländlichen Süden zwischen Kupferdreh, Byfang, Heidhausen, Werden und Kettwig. Der unveränderte Trend: Kleinere Betriebe, so Ortslandwirt Dr. Günter Maas, blieben angesichts der globalisierten Weltmärkte auf der Strecke. Die vom Verbraucher ungewollte, aber de facto beschleunigte Konzentration auf wenige Großbetriebe sei die Folge.

Hinzu kämen „praxisfremde Auflagen und Verordnungen, mit denen sich der klassische Mischbetrieb aus Viehhaltung und Ackerbau ‘rumschlagen müsse. Die neue Jauche-Gülle-Sickersaft-Verordnung etwa zwinge ihn zu einer aberwitzigen sechsstelligen Investition, die nicht zu stemmen sei. „Außerdem kommt dadurch kein einziger zusätzlicher Euro rein, deshalb demonstrieren wir.“

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Marvin Fuchs wohnt nahe der Gladbecker Straße und will eigentlich mit seiner Frau und Baby Lago (sechs Monate) in der City shoppen. Eine Viertelstunde dauert die Vorbeifahrt der Trecker. Wegen des langen Staus auf der Gladbecker lässt er kurzentschlossen das Auto stehen und steigt auf die Ruhrbahn um. Unter seinen Kollegen in der Asphaltmischanlage seien etliche Nebenerwerbslandwirte, berichtet er. „Ich kriege die Missstände mit, unter denen sie leiden, und habe Verständnis für ihren Protest.“

„Es ist ein Wahnsinn, was man mit uns macht, deshalb springen wir ja aus dem Hemd“

Der Essener Landwirt Einhard Im Busch hat 1200 Mastschweine im Stall, auf den Feldern baut er Zuckerrüben, Weizen, Gerste und Mais an, außerdem betreibt er eine Abfallbiogasanlage. „Es ist ein Wahnsinn, was man mit uns macht, deshalb springen die Landwirte und die ländliche Bevölkerung ja aus dem Hemd“, sagt er am Rande der Demonstration in Essen.

800 Traktoren in der Stadt, so etwas hat Essen noch nicht gesehen. „Hintereinander aufgestellt ist der Konvoi fast acht Kilometer lang“, rechnet ein Kradpolizist vor.

Christoph Schemmer aus Reken-Hülsten füllt unterdessen Gutscheine aus – „für eine Besichtigung in unserem Familienbetrieb im Kreis Borken“. Um Terminvereinbarung wird ausdrücklich gebeten. „Wir rufen zu Tisch“, steht auf der Postkarte.