Essen. . Am Mittwoch wurden in Essen Stolpersteine verlegt. Für diese Ehrung der Eltern und Großeltern kamen Verwandte aus Israel, den USA und Australien.

Wer meint, man solle endlich einen Schlussstrich ziehen, mehr als 70 Jahre nach Kriegsende, der sollte am Mittwoch an der Maxstraße in der City stehen. Wo Tränen fließen in Erinnerung an Erna und Martin Pelz, gestorben 1945. So lange her und nie vorbei für ihre Enkeltöchter Tali Samuels und Yael Caspi, die für diese Zeremonie aus Israel gekommen sind. Für die Stolpersteine, die Gunter Demnig vor Nummer 24 verlegt, für die Worte, die Dagmar Günther vom Stadtarchiv spricht.

Sie erzählt von der Familie Pelz, die eine Elektro-Firma hatte und einen Sohn namens Wolfgang. Zu ihrem Leben gehörten der Kegelverein wie die Synagoge, weil sie ganz selbstverständlich Essener waren und Juden. Bis ihr Selbstverständnis als Deutsche von den Nazis brutal vernichtet wurde. 1942 wurden Erna und Martin Pelz ins polnische Izbica deportiert, danach verliert sich ihre Spur. Ihr Sohn Wolfgang hatte vergeblich auf ihre Rettung gehofft.

Die gut gehüteten Briefe erzählten von den Großeltern

Wolfgang war als Jugendlichem noch rechtzeitig die Flucht nach Palästina gelungen, er nahm dort später den Namen Zeew Peled an und gründete eine Familie. „Aber er hat zu uns nie von der Vergangenheit gesprochen“, sagt seine Tochter Yael Caspi. „Und wir haben das immer respektiert, weil wir wussten, dass er seine Familie verloren hat“, ergänzt ihre Schwester Tali Samuels.

Gesprochen hat Wolfgang Pelz erst, als er 1988 über das Besuchsprogramm der Stadt Essen in seine frühere Heimat zurückkehrte. Damals lernte er über das Gedenkprojekt der Alten Synagoge Dagmar Günther kennen, „und ging mit uns den Weg zurück in seiner Lebensgeschichte“. Er vertraute Günther auch den Briefwechsel seiner Eltern an. „Ich habe die Briefe gehütet, die Sütterlin-Schrift entziffert, alles abgetippt.“ Yael Caspi und Tali Samuels konnten die Briefe nun in der Alten Synagoge einsehen und so ihre Großeltern kennenlernen. „Wir hatten kein Grab für sie, keinen Ort, nun gibt es diese Stolpersteine, die an sie erinnern“, sagen die beiden. Aus Dankbarkeit haben sie im Karmel-Gebirge in Israel Bäume für Gunter Demnig gepflanzt.

Die Tochter überlebte, ihre Eltern wurden ermordet

Kritiker der Stolpersteine sagen, hier werde die Erinnerung mit Füßen getreten. Die Familien, die am Mittwoch aus Australien, Israel und den USA nach Essen kamen, weil dort Stolpersteine verlegt wurden, empfinden das völlig anders. Shanti Conly aus Washington D.C. erzählt, wie sie davon hörte, dass in Köln ein Stolperstein für ihre Urgroßmutter liegt: „Ich dachte, wie schön es ist, dass die Leute dort an sie erinnert werden.“ Eine solche Erinnerung wünschte sie sich auch für ihre Mutter und ihre Großeltern, deren Wohnung an der Brunnenstraße 55 im Südviertel im Novemberpogrom 1938 verwüstet wurde.

Brunnenstraße 55 im Essener Südviertel (v.l).:
Brunnenstraße 55 im Essener Südviertel (v.l).: © Stefan Arend

Nach diesem Schock schickten die Eltern ihre Tochter Anneliese mit einem Kindertransport nach England. Das literarisch talentierte Mädchen sollte überleben, heiratete später einen Arzt aus Sri Lanka und wurde dort als Anne Ranasinghe zu einer hochgeehrten Dichterin, deren Werke um das Leiden der Juden und ihrer Familie kreisen: Ihre Eltern Anna Amalie und Emil Katz wurden 1944 in Kulmhof (Chelmno) umgebracht. Ihr habe die Mutter wenig über das Leben der Familie erzählt, sagt Shanti Conly. Darum hat sie die Familiengeschichte selbst zusammengetragen und sich mit ihrer Tochter Gillian Richter und ihrer Schwester Renuka Ranasinghe aus Perth auf den Weg nach Essen gemacht: Dort stehen sie nun im Nieselregen an der Brunnenstraße, schauen auf drei Stolpersteine – Ziel ihrer Reise.

Zeitreise führt von Australien ins Essener Südostviertel

David Hughes hat einen langen Weg zurückgelegt, vom australischen Wamberal in die Dammannstraße im Südostviertel. Hier lebten einst seine Großeltern Henriette und Leo Fränkel, die er nie kennengelernt hat. Umso wichtiger ist ihm dieser Ort, an dem nun Stolpersteine für Großmutter und Großvater liegen, die von den Nationalsozialisten in Auschwitz ermordet wurden. „Es ist tröstlich, diese besondere Erinnerung an sie zu haben“, sagt David Hughes. „Auch meine Kinder und Enkel werden herkommen.“ Schon jetzt begleitet ihn sein Neffe Brian.

© Sttefan Arend

David Hughes’ Mutter Ilse Fränkel (später Hughes) wurde im Südostviertel groß, hat das Viktoria-Gymnasium besucht, bevor die Nazis ihr den Schulbesuch untersagten. 1939 schickten die Eltern die 19-jährige Ilse und ihren Bruder Werner (22) nach Kenia. Sie wollten ihre Kinder in Sicherheit bringen, aber warum sie das ostafrikanische Land wählten, ist bis heute unklar. Bekannt ist, dass Leo Fränkel Suaheli lernte, dass er mit seiner Frau nachkommen wollte. Doch die beiden wurden nach Theresienstadt deportiert – von da kam der letzte Brief an die Kinder: undatiert und zensiert.

Nach vielen Jahrzehnten trafen sich die Söhne in Essen

„Meine Mutter hat uns manches erzählt, aber sie war traumatisiert“, sagt David Hughes. Es gab Auslassungen in Ilses Familiengeschichte, die der Sohn später zu füllen versuchte. Auch mit Hilfe der Stolperstein-Initiatoren, „von denen wir sehr viel erfahren haben“, wie Davids Frau Janine Hughes betont.

David Hughes hat seine Familiengeschichte aufgeschrieben, vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Besuch in Essen. Hier hat er übrigens Norbert Imbusch kennengelernt: „Seine Mutter war die beste Freundin meiner Mutter.“ Dass sich deren Söhne nun gefunden haben, sei das große Glück dieser Reise.

>>> STOLPERSTEINE LIEGEN IN 21 LÄNDERN

Seit den 1990er Jahren erinnert der Künstler Gunter Demnig an die Opfer der NS-Zeit, indem er vor ihrem letzten selbstgewählten Wohnort Messingtafeln ins Trottoir einlässt – die Stolpersteine. Demnig wollte erst Plaketten an Hauswänden anbringen, ahnte aber, dass das vielen Eigentümern unrecht gewesen wäre. Heute liegen über 60 000 Stolpersteine in 21 Ländern.

Kritiker wie die Holocaust-Überlebende und Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München Charlotte Knobloch sagen, mit den Stolpersteinen werde das Andenken der Menschen mit Füßen getreten. In München dürfen keine Stolpersteine im öffentlichen Raum verlegt werden.