Essen. „Muslimisch, männlich, desintegriert“ – wie Professor Ahmet Toprak das Gehabe und den Ehrbegriff vieler muslimischer Männer erklärt.
Basierend auf der Formel des Soziologen Ralf Dahrendorf aus den 1960er-Jahren („katholisch, weiblich, ländlich“) haben Bildungsforscher ihre Ergebnisse in einem neuen Dreiklang zusammengefasst: „Das heißt, die neuen Bildungs- und Integrationsverlierer sind männlich, Muslime und leben in einer Großstadt der alten Bundesländer“, sagt Ahmet Toprak, Dekan des Erziehungswissenschaftlichen Instituts der FH Dortmund und Autor des Buchs „Muslimisch, männlich, desintegriert – Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schiefläuft“. Doch was sind die Gründe dafür? Welche Konsequenzen hat das für unsere Gesellschaft? Und was passiert mit unserer Gemeinschaft, wenn wir keine Lösungen finden? Ein Gespräch über die Weitergabe von mittelalterlich anmutenden Werten, über Machos, Ehre, Gewalt, und über einen Weg heraus aus dieser Spirale…
Verhältnisse wie in Paris, London oder Brüssel verhindern
Herr Toprak, ich möchte mit dem letzten Satz Ihres Buches beginnen. Es endet mit der Mahnung, dass unserer Gesellschaft große Probleme ins Haus stehen, „wenn wir junge Muslime in Deutschland nicht in die Gesellschaft integrieren können“. Dann „werden wir am Ende solche Verhältnisse wie in Paris, London oder Brüssel mit ihren Parallelgesellschaften bekommen“. Wie weit sind wir in Stadtteilen wie Marxloh oder im Dortmunder Norden denn davon entfernt?
Ahmet Toprak: Den Dortmunder Norden kenne ich sehr gut und Marxloh habe ich mir mit einer Forschungsgruppe genauer angesehen. Es ist bei Weitem nicht so, als herrschten in diesen Stadtteilen soziale Unruhen wie etwa in Pariser Vororten, aber wenn wir diese jungen Männer nicht mitnehmen und ihnen auch keine Angebote machen, damit sie den sozialen Aufstieg schaffen, dann kann genau das passieren.
Warum vermitteln konservativ-muslimische Familien in Deutschland auch in der dritten Generation noch altertümliche und gewalttätige Moralvorstellungen?
Toprak: Wir wissen, dass Migranten in Nachfolgegenerationen konservativer werden. So ist die dritte Generation etwa konservativer als die erste oder zweite – unabhängig davon woher sie stammt. Das liegt daran, dass die hier Geborenen die Herkunftsländer ihrer Eltern oder Großeltern nur aus Erzählungen und Urlauben kennen. Sie haben nur eine romantische Vorstellung von der Türkei beispielsweise. Wie das Leben dort wirklich ist, wie die Institutionen funktionieren, welche Sorgen und Herausforderungen es gibt, wissen sie nicht. Jedwede Kritik an ihren Herkunftsländern empfinden diese jungen Menschen in der Folge als Kritik an ihrer Identität. Und um ihre Identität zu wahren, zu der die Moralvorstellungen gehören, die ihre Eltern und Großeltern vor Jahrzehnten aus ländlichen Regionen der Türkei mit nach Deutschland gebracht haben, beharren Teile der Dritten Generation noch strenger auf den überholten Erziehungsmustern.
Sie vertreten in ihrem Buch die These, dass für den Erfolg oder Misserfolg der Integration in erster Linie die Erziehung und das Verhalten der Eltern verantwortlich sind. Aber wie kommen wir als Gesellschaft an die Eltern heran, um ihnen klarzumachen, dass ihre Art der Erziehung Ursache der Probleme mit muslimischen Männern ist?
Toprak: Das ist schwierig und bedarf großer Anstrengungen, das steht außer Frage. Der Ort, an dem wir Eltern und Kinder am besten erreichen können, ist die Schule. Aber wir müssen unsere Ansprache grundsätzlich ändern. Natürlich ist es auch in diesem Milieu so, dass ausgerechnet jene Eltern, für die es eigentlich wichtig wäre, nicht an Elternabenden oder ähnlichen Veranstaltungen teilnehmen. Ich weiß, das werden unsere Lehrkräfte nicht gerne hören, und ich bin mir auch nicht sicher, ob sie das überhaupt leisten können, aber Lehrer müssen zu den Eltern von problematischen Kindern nach Hause. Auch muslimische Eltern haben ein ganz großes Interesse daran, dass ihre Kinder einen Schulabschluss erlangen, der sie dazu befähigt, später ein gutes, familienernährendes Einkommen zu erlangen. Wir müssen also zu den Jugendlichen nach Hause und dort mit ihren Eltern klar und deutlich über unsere Regeln reden. Wir dürfen nicht voraussetzen, dass die jungen Männer bereits aus ihrem Elternhaus die Regeln der Schule kennen.
„Das Kind – vor allem ein Mädchen – muss gehorsam sein und die von den Eltern übertragenen Aufgaben sorgfältig ausführen. Widerspruch ist nicht vorgesehen“, schreiben Sie. Was ist kennzeichnend für die Rolle des Mädchens/der Frau?
Toprak: In vielen muslimischen Familien werden die Mädchen von klein an dazu erzogen, eines Tages eine ‘gute Ehefrau, Mutter und Hausfrau’ zu sein. Paradoxerweise führt genau das dazu, dass muslimische Mädchen häufig eher den Bildungsaufstieg schaffen als muslimische Jungen. Mädchen werden zu zuverlässigen, fleißigen und ordentlichen Personen erzogen. Werte, die für sie in der Schule sehr hilfreich sind. Außerdem ist das Abitur für viele Mädchen auch ein Ausweg. In der konservativ-muslimischen Community gibt es für Mädchen eigentlich nur zwei legitime Wege aus dem Elternhaus: die Heirat und ein Studium. Ein Studium an einer Universität in einer anderen Stadt wird inzwischen von vielen Familien als temporärer Grund zum Auszug aus dem Elternhaus akzeptiert.
Bleiben wir bei den Rollen in der Familie und dem alles überragenden Ehrbegriff. Sie schreiben, der Vater ist auch in Deutschland dafür verantwortlich, dass die Ehre der Familie gewahrt bleibt. Die Ehre werde vor allem auf die Sexualmoral der Frau reduziert, weil das Verhalten der Frau ein kontrollierbarer Bereich zu sein scheine. In was für einem Mikrokosmos leben muslimische Mädchen und Frauen eigentlich inmitten unserer Gesellschaft?
Toprak: Es ist immer noch so, dass es sowohl für Männer als auch für Frauen unheimlich wichtig ist, dass die Frau als Jungfrau in eine Ehe geht. Das zu garantieren, ist die Aufgabe des Vaters oder Bruders. Das Ansehen der Männer in der Familie in der eigenen Community ist auch von der Erfüllung dieser Aufgabe abhängig. Die Ehre der Familie muss gewahrt bleiben. Tatsächlich ist es sogar so, dass viele Mädchen, die vor der Ehe Sex hatten, sich das Jungfernhäutchen beim Gynäkologen rekonstruieren lassen. Für junge Männer gilt das nicht. Im Gegenteil: Ihnen wird vermittelt, dass sie besser sexuelle Erfahrungen sammeln sollten, ehe sie heiraten. Wenn nötig, auch im Bordell.
Immer wieder berichten Lehrerinnen, dass schon Grundschüler Frauen im Klassenzimmer nicht respektieren. Ursache dafür sei die Erziehung der Familie, die den Jungen beibringe, dass der Mann das Sagen hat. Was sollten Lehrerinnen machen, um respektlose Jungs in ihre Schranken zu weisen?
Toprak: Sie müssen unmittelbar auf das Vergehen reagieren und unmissverständlich klar machen, welche Regeln gelten. Sie sollten auf keinen Fall Sätze wie „in der Türkei oder bei dir Zuhause mag das ja anders sein, aber hier nicht“ verwenden. Das bringt nichts. Stattdessen muss den Jungen deutlich gemacht werden, dass ihr Verhalten Konsequenzen nach sich ziehen kann und diese müssen dann auch schnellstmöglich umgesetzt werden.
Damit ihre Kinder muslimisch aufwachsen, kompensierten Eltern die fehlende muslimisch geprägte gesellschaftliche Umgebung über Korankurse in Moscheevereinen. Viele der Geistlichen kommen aus der Türkei, sind der deutschen Sprache nicht mächtig und vertreten ein sehr konservatives Weltbild. Sind Moscheevereine also Integrationshindernisse?
Toprak: Ja, das ist so. Natürlich gilt das nicht für alle Moscheevereine, aber zumindest für die der Ditib kann ich sagen, dass sie integrationsschädlich sind. Denn neben ihrem geistlichen Daseinsgrund haben sie noch einen weiteren Auftrag: Die Erhaltung des Türkentums. Die Türken sollen sich nicht von ihrem Türkensein entfremden. Die Türkei schickt ja keine progressiven Imame in ihre Ditib-Moscheen in Deutschland, sondern da kommen eben regimetreue Männer, die dann eben bestimmte Wertvorstellungen haben.
Sie schreiben, dass Jugendliche die Solidarität und Loyalität, die sie innerhalb der Familie erlernen, auf ihren Freundeskreis ausweiten. In ihrer bedingungslosen Solidarität würden sie Freunden Hilfe leisten, ohne die Situation zu hinterfragen. Haben wir es deshalb in diesem Milieu so oft mit Massenschlägereien zu tun?
Toprak: Nachdenken oder Nachfragen gibt es häufig nicht. Andernfalls könnte die Ehre und Männlichkeit des Jugendlichen von seinen Freunden infrage gestellt werden. Für diese Jungs und Männer steht es völlig außer Frage, dass man für seine Freunde einsteht – im Zweifel auch mit Gewalt, ganz egal, ob man im Recht oder Unrecht ist.
Ihr Buch endet – wie zu Beginn dieses Interviews erwähnt – mit der Erkenntnis, dass es zwar viel Verbesserungsbedarf gibt, es aber um die Integration muslimischer Männer nicht so dramatisch stehe wie in Paris, Brüssel oder London. Was glauben Sie, wohin die Entwicklung geht?
Toprak: Das ist schwer zu sagen. Wir müssen es schaffen, diese jungen Männer in unsere Gesellschaft zu integrieren. Ich glaube nicht, dass die Situation in deutschen Großstädten 2030 schlimmer sein wird als heute. Wir müssen die Jungen davon überzeugen, dass freiheitliche Werte und Normen sie weiterbringen und sie nicht einschränken. Und wir müssen erreichen, dass die Eltern ihre Kinder anders, vor allem freier erziehen. Ich hoffe, wir schaffen das.