Essen. Zwei Konzerte in der Philharmonie: Herman van Veen (74) erfreut mit Augenblicken ungeheurer Intensität. Es geht um Erinnerungen und das Altsein.
Eine ganz alte Freundin, die, die einen alles fragen darf, begehrte anschließend zu wissen: „Und, wie war es beim alten Zausel?” Der „alte Zausel”, liebe Regine, der bringt es noch, auch mit seinen 74 Jahren, wovon sich die Zuschauer bei Herman van Veen an gleich zwei Konzertabenden in der ordentlich gefüllten Essener Philharmonie überzeugen konnten. Der stadtbekannte Holländer („Ich komme seit 48 Jahren nach Essen”) hatte sein Programm „Neue Saiten“ betitelt, womit nicht nur die erstmals das Ensemble verstärkende Harfenistin Wieke Garcia gemeint sein dürfte. Van Veen setzte auch neue optische Akzente: Zylinder, Zirkusjackett, die Pumps der weiblichen Begleitung, der Meister selbst auf feinen Seidensocken -alles leuchtete in Tomatenrot, was dem Abend mehr als eine Fruchtnote verlieh. Den eh schon immer mehr klassischen Tönen wohnte eine gewisse Grandezza inne.
Die eigene Kindheit: So gut, wie es früher war, ist es nie gewesen
Der Abend in Essen begann in der Landessprache des Musik-Poeten und enthielt auch im weiteren Verlauf viele holländische Stücke. Wohl eine Verbeugung vor seinen zahlreich anwesenden Landsleuten, die später mit ihren NL-Kennzeichen die Alfredstraße bevölkerten. Die Themen waren die eines in die Jahre gekommenen einstigen Clowns: Liebe, Tod, Toleranz, Kindheit - Augenblicke ungeheurer Intensität. Wer schweift bei „Unten am Deich“ nicht ab in seine eigene Kindheit? Für den in die Jahre gekommenen Ruhrgebiets-Jungen bedeutet dies: Unten am Kanal, bei Kartoffelsalat und eisgekühltem Tee aus den Satteltaschen von Onkel Franz - die Kindheit, sie wird für einen eingefrorenen Moment noch einmal fühlbar. Um dann vom Meister wieder in die Realität zurück geholt zu werden: „So gut, wie es früher war, ist es früher nie gewesen!“
Nichts Menschliches ist ihm fremd
Ein immer mehr wiederkehrendes Thema bei ihm ist das Noch-Älter-Werden, natürlich auf die van Veensche Weise: „Was hast du davon, wenn Du 80 wirst, im Wohnzimmer die Hosen runter lässt, um hinter das Sofa zu kacken?“ Nichts Menschliches ist ihm, der sonst mit Worten spielt, fremd - und schon gar nicht peinlich. Die Schlüsselloch-Beobachtungen des Pubertierenden beim Blick ins elterliche Schlafzimmer inklusive.
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Aktuelle Themen registriert van Veen sehr wohl. „Wir appen, appen”, ätzt er gegen die Chat-Wut der Jüngeren, und veräppelt sie. Für die nahende Klima-Katastrophe entwirft der auf einem Bauernhof nahe Utrecht lebende Weltbürger sein persönliches Szenario: „Wenn die Erde sich um zwei Grad erwärmt, dann müssen 17 Millionen Holländer nach Deutschland umziehen!” Heiterkeit im Saal, die van Veen kontert: „Ja, noch lachen Sie!“ Wer am Ende wohl Recht behält?
Zwischen Rock’n’Roll-Tanzeinlagen gibt es Kunstpausen
Fast drei Stunden treibt es der Altmeister wild auf der Bühne, der sich aber neben erstaunlichen Rock’n’Roll-Tanzeinlagen immer wieder seine Kunstpausen gönnt, in dem er seinem hervorragenden Ensemble wachsenden Raum gibt: Der famosen Gitarristin und treuen Wegbegleiterin Edith Leerkes, die ein atemberaubend italienisches „A voglio bene” ins Mikrophon haucht, der Teufelsgeigerin Jannemien Cnossen mit ihrer glockenhellen Stimme („Kisses”), und dem coolen Bassisten Kees Dijkstra, der seinem Begleit-Instrument ein erstaunliches Solo entlockt und ansonsten die Clownereien übernimmt.
Dann sitzt van Veen gedankenversunken am Piano, dessen Platz seit fünf Jahren weitestgehend leer bleibt, nach dem Tod des langjährigen Weggefährten Erik van der Wurf, den van Veen vor über 50 Jahren im Utrechter Konservatorium mittels Schwarzem Brett fand. Der schweigsame Pianist war im Team das wandelnde Navi-Gerät, und Herman van Veen ist sich sicher: „Wenn Erik im Himmel ist, wird sich dort niemand mehr verlaufen.“
Nach knapp drei Stunden greift sich der “Zirkusdirektor” Zylinder und Jackett - es ist vorbei. Aber er geht mit dem Versprechen: „Fahren Sie vorsichtig, dann sehen wir uns hier in zwei oder drei Jahren wieder!” Ja, Herman, wenn der, der alles lenkt, es so will: Aber gerne doch!