Essen. Regelmäßige Blindgängerfunde führen zu Fragen: Wie viele Bomben schlummern noch im Essener Boden und müssen Entschärfungen so aufwändig sein?
Bombenentschärfungen sind einerseits längst Routine, andererseits gibt es Häufungen, die aufmerken lassen und für Anwohner auch sehr lästig sein können. Die Folge der Blindgängerfunde: gesperrte Straßen, zum Teil wiederholte Evakuierung von Anwohnern in kurzer Zeit, Räumung von Institutionen wie der Universität. Wir beantworten die wichtigsten Fragen zum Thema.
Entschärfung ausgerechnet zur Hauptverkehrszeit – muss das sein?
Leider ja. Der seit 2014 gültige Rund-Erlass der Bezirksregierung Düsseldorf schreibt die „unverzügliche“ Entschärfung eines Blindgängers vor. „Früher konnten wir uns ein bis zwei Tage Zeit nehmen“, erklärt Ordnungsdezernent Christian Kromberg. Man habe die Bombe bewacht, betroffene Menschen informiert und die Entschärfung in eine „angenehme“ Zeit legen können, etwa 10 Uhr morgens. Das ist vorbei.
Krisenstab der Stadt Essen muss mitunter mehrere Hundert Helfer mobilisieren
Bedeutet „unverzügliche Entschärfung“ weniger Aufwand?
Nein, im Gegenteil. Der Aufwand ist bedeutend höher. Der Krisenstab muss mitunter bis zu 270 Kräfte mobilisieren: Feuerwehrleute, Polizisten, städtische Ordnungskräfte, Katastrophenhelfer, Ehrenamtler der DLRG, Malteser, DRK usw. Trotzdem hält Kromberg fest: „Wir haben den Rund-Erlass professionell umgesetzt und sind in der Lage, das Prozedere der Entschärfung in wenigen Stunden abzuwickeln. Das ist sehr schnell.“
Wie tief bohren sich Blindgänger eigentlich in die Erde?
Bis zu acht Meter. Wenn die Oberflächen-Detektion keine Verdachtspunkte ermittelt, können die Trupps Tiefensondierungen bis zu einer Tiefe von 7,50 Meter durchführen.
Essen war besonders oft von Bombenangriffen betroffen
Ist Essen häufiger betroffen als die Nachbarstädte?
Ja. Zwar ist das gesamte Ruhrgebiet wegen seiner strategischen Bedeutung als Industriestandort, wegen der vielen Großstädte und wegen der vielen Menschen die man treffen konnte, Ziel der Bombenangriffe gewesen. Allerdings gehörte Essen wegen der Krupp-Fabriken und wegen der Funktion als eine Art inoffizieller Hauptstadt des Ruhrgebiets zu den Zielen mit hoher Symbolkraft.
Der „Feuersturm“ liegt beinahe 80 Jahre hinter uns. Ist ein Ende der Blindgängerfunde absehbar?
Leider nein. Die Fundzahlen seien weiterhin konstant, betonte die Düsseldorfer Bezirksregierung, bei der die Experten des Kampfmittelräumdienstes angesiedelt sind, im Herbst 2019. Selbst wenn nicht punktuell auf Baustellen, sondern flächendeckend in ganz NRW gesucht würde, würde man einige hundert Jahre benötigen, um das Land „blindgängerfrei“ zu machen.
Wer muss Kampfmittel beseitigen?
Grundsätzlich ist das Aufgabe der Kommune – im Fall Essen die des Ordnungsdezernats. Allerdings werten die Düsseldorfer Experten die Luftbilder aus, die die Piloten der Royal Air Force 1945 aufgenommen haben. Suche und Bergung der Blindgänger sei ebenfalls Sache der Düsseldorfer, die Kosten trägt das Land. Für Evakuierungen ist jedoch die Stadt Essen zuständig.
Luftkriegsbilder sind nur den zuständigen Stellen zugänglich
Können die Kriegsluftbilder von jedermann eingesehen werden?
Nein. Die Briten haben ihre Luftbilder den deutschen Behörden nur zur Verfügung gestellt, damit sie behilflich sind, Kampfmittel zu beseitigen. „Bitte sehen Sie daher von jeglicher, die Luftbilder betreffenden Kontaktaufnahme ab“, heißt es.
Wie viele Angriffe hat Essen im Zweiten Weltkrieg erlebt?
Knapp 250 Luftangriffe haben Historiker für die Stadt Essen von 1940 bis 1945 registriert, davon 30 sehr schwere, an denen mehrere hundert Flugzeuge beteiligt waren. Ab 1943 führten die Flugzeuge eine wissenschaftlich ausgeklügelte Mischung aus Spreng- und Brandbomben mit sich, um maximalen Schaden anzurichten und die gefürchteten Feuerstürme zu entfachen.
Essen in Trümmern
Rund 6500 Essener starben durch die Weltkriegsbomben
Wie viele Tote hat es dabei gegeben?
Rund 6500 Essener starben bei den Luftangriffen – sie verbrannten, erstickten, wurden durch Trümmer erschlagen oder durch Sprengbomben zerrissen. Diese an sich ungeheure Zahl ist sogar noch vergleichsweise gering. In Städten ohne „Alarm-Routine“ und ohne ausgebautes Bunkernetz, dafür mit leicht entflammbaren Altstädten verloren in einer Nacht mitunter 20 000 Menschen ihr Leben.
Wie fanden die Bomber ihr Ziel?
Die ersten Luftangriffe glichen noch Nadelstichen. Für die auf Sicht und oft nachts fliegenden Piloten war es schwer, überhaupt die richtige Stadt zu treffen, zu schweigen von einzelnen Gebäuden oder Fabrikhallen. Ab 1943 aber standen der britischen Luftwaffe Peiltechniken zur Verfügung, die es ermöglichten, die Bombenlast ziemlich zuverlässig ins Ziel zu bringen – und das Ziel waren in Essen der Stadtkern und die dicht besiedelten Stadtteile rund um die Kruppschen Fabriken. Auch das Nordviertel zählte dazu.
Von 184.000 Wohnungen blieben nur 24.000 unbeschädigt
Wie viele Wohnungen wurden zerstört?
Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren von 184.000 Essener Wohnungen rund 60.000 nicht mehr existent, rund 100.000 mit mehr oder weniger hohem Aufwand zu reparieren und nur 24.000 geringfügig oder gar nicht beschädigt. Die letzteren lagen meist in den ländlicher gelegenen Stadtteilen.
Und wie viele Bomben gingen nun auf Essen nieder?
Ganz exakt weiß das niemand. Die Zahl der Brandbomben, die jeweils nur wenige Kilogramm wogen, geht in die zig Millionen. Auch sie werden noch hin und wieder gefunden, ihre Entschärfung ist aber nicht sehr aufwändig. Von den schweren Sprengbomben, die bis heute das Blindgänger-Problem verursachen, sind laut Schätzung des Essener Historikers und Bombenkriegs-Experten Norbert Krüger rund 100 000 auf die Stadt gefallen, wobei jede Siebte nicht detonierte.
In aller Regel ist es kein Problem, über einem Blindgänger zu leben
Wie viele der Blindgänger sind noch im Boden?
Auch das ist schwer zu sagen. Von den geschätzt rund 14 000 Essener Blindgängern sind noch während des Krieges und in den Jahren des Wiederaufbaus mutmaßlich die Mehrzahl gefunden und entschärft worden. Tausende andere aber wurden nach 1945 einfach überbaut und schlummern tief im Erdreich. Stahlmantel und Zünder halten noch lange, fast ewig. Unzählige Essener leben und arbeiten also über einer Bombe. In aller Regel ist das kein Problem, aber es kann eines werden. Spätestens dann, wenn ein Neubau ansteht.