Essen. Ein Polizist erschoss ihren Sohn. Die Mutter von Adel B. erhebt schwere Vorwürfe gegen die Ermittler – in einem Fall, der nur Verlierer kennt.
Hier oben auf dem Hügel, am südlichen Ende des Hallo-Friedhofs, haben sie ihn begraben: Hinter Feld 60, zweite Reihe, das Grab mit den schönen Rosen, die bei dieser Gluthitze längst traurig ihre Köpfe hängen lassen. Ein kleines Holzschild dahinter verrät, dass Adel B. erst sechs Wochen zuvor seinen 32. Geburtstag hat feiern können. Es erzählt nichts von seinem tragischen Tod am frühen Morgen des 18. Juni, als ihn der tödliche Schuss eines Polizisten traf. Notwehr, so klingt es bei der Polizei. Doch Adel war noch nicht unter der Erde, da erhob seine Mutter massive Vorwürfe gegen die Ermittler.
„Ich befürchte, dass der Tod meines Sohnes nicht gerecht aufgeklärt wird“, so schreibt sie dieser Zeitung. Auch einer seiner besten Kumpel raunt am Grab vielsagend: „Da war ein Nazi-Auge bei.“ Und jene, die womöglich widersprechen könnten, die sind zum Schweigen vergattert. Eine Gemengelage, die nur Verlierer kennt.
Polizeikreise bestätigen den Fall häuslicher Gewalt
Und eine Vorgeschichte, die noch ein zusätzliches, ein anderes Licht auf die dramatischen Ereignisse wirft. Denn neun Tage vor dem tödlichen Aufeinandertreffen hatte Adel B. schon einmal Kontakt mit den Ordnungshütern: Die waren zu einem Fall häuslicher Gewalt in seine Wohnung nach Altendorf gerufen worden. Dort soll er, den alle ja nur als netten Menschen und guten Kumpel, als einstigen Jugendtrainer und freundlichen Kollegen beschreiben, seine Lebensgefährtin mit einem Messer bedroht haben. Polizeikreise bestätigen den Vorfall.
Die herbeigerufenen Beamten reagieren wie oft in solchen Fällen: indem sie den vermeintlichen Täter der Wohnung verweisen. Das damit einhergehende Rückkehrverbot für zehn Tage soll der „gefährdeten Person“, wie sie im Polizeigesetz genannt wird, die Chance geben, die Beziehung auf den Prüfstand zu stellen. Und es soll die Lage beruhigen, auch aufseiten des mutmaßlichen Täters.
Mehr als 16 Minuten sind per Handy-Video dokumentiert
Doch Adel B. war augenscheinlich zu aufgewühlt, zu durcheinander, um sich zu beruhigen. Zwei Tage später treffen ihn die Polizisten wieder: Mitten in dunkler Nacht erhellt die Taschenlampe eines Beamten die Szenerie, wie der 32-Jährige sich an einer Bushaltestelle in Frohnhausen selbst ein Messer an den Hals hält. Er droht sich umzubringen.
Aber er redet. Unterhält sich mal ruhig und mal aufgebracht mit den Polizisten vor Ort, die ihrerseits versuchen zu verhindern, dass er mit dem Messer jenseits der Absperrung weiterläuft. Gut 16 Minuten dieses Einsatzes, vielleicht auch mehr, sind auf Handy-Videos dokumentiert – gedreht offenbar von einem Anwohner gegenüber. „Ihr Hurensöhne! Ist Kino, ne? Verpisst Euch!“ ruft Adel B. die Straßenschlucht längs. Im grellen Schein des Lichtkegels ist die Video-Qualität bemerkenswert, die Filmchen machen in den folgenden Tagen die Runde.
Wie realistisch ist das Bedrohungs-Szenario?
Und so erfahren auch andere von einem Bedrohungs-Szenario, bei dem nicht klar wird, welchen Wahrheitsgehalt es in sich trägt. „Ich muss damit leben, dass mein Leben bedroht ist und meine Kinder zuhause Angst haben“, sagt jedenfalls Adel B. in dieser Nacht: „Meine Tochter kommt raus aus dem Zimmer und weint und sagt, da war jemand an meinem Fenster und guckt da rein. Und ich sag das der Polizei, und die macht nichts.“ Sein ganzes Leben sei nur noch durcheinander, ruft er ins Dunkel, orakelt von düsteren Gestalten, eine Polizist steigt darauf ein: „Was ist denn mit Zeugenschutz? Anderer Name, andere Stadt...“
Die innere Unruhe ist dem jungen Mann auf den Videos anzusehen, das Bemühen der Polizisten, den Abend friedlich zu Ende zu bringen, unüberhörbar. Und gespenstisch, wie die späteren Ereignisse in dieser Nacht in dem verbalen Schlagabtausch vorweggenommen werden: „Was ist mit ihrer Mutter?“, fragt eine Polizistin, „die wollen sie doch nicht noch trauriger machen, oder?“
„Wir können sie doch so hier nicht laufen lassen“
Ihr Kollege bringt es auf den Punkt.
Polizist: „Aber sie können verstehen, dass uns ein Anliegen ist, dass sie sich hier nicht umbringen. Und dass sie keinen Kollegen angreifen. Wir können sie doch so hier nicht laufen lassen.“
Adel B.: „Dann erschießen sie mich doch.“
Was am Ende den Ausschlag gibt, ist unklar, aber diese Nacht des 11. Juni nimmt ein gutes Ende: Zum Schluss wirft Adel B. auf dem Video das Messer weg, er zieht sich zum Beweis, dass da keine weiteren Waffen sind, sein weißes Shirt aus und die Sneakers, und setzt sich auf den Boden. Langsam kommen die Polizisten auf ihn zu, führen ihn später weg. Er kommt in die Psychiatrie.
Wieder ist ein Handy zur Stelle: Er klingt aggressiver diesmal
Und meldet sich genau eine Woche später wieder bei der Polizei. Der Anruf geht in aller Herrgottsfrühe um 5.04 Uhr in der Leitstelle ein: „Ich stehe hier und bringe mich um“, dieser Satz von ihm wird kolportiert. Ein Streifenwagen ist wenige Minuten später vor Ort, für die Beamten ist es das Ende der Nachtschicht, es ist taghell, als sie einen Abschnitt der Altendorfer Straße für den Auto- und Straßenbahn-Verkehr sperren.
Adel B. steht vor dem Waschsalon an der Ecke von Altendorfer und Siemensstraße, wieder hält er sich ein Messer an den Hals und liefert sich mit den Beamten ein Wortgefecht, diesmal hörbar aufgekratzter und aggressiver als eine Woche zuvor. Und wieder ist ein Anwohner zur Stelle, der die Szenerie mit dem Handy filmt, fünf Minuten und zwei Sekunden lang.
„Schieß, Dicker! Schieß!“ ruft er dem Polizisten zu
Die drei Polizisten, alle mit gezogener Waffe, bemühen sich erkennbar um kontrollierte Defensive: Wann immer Adel B. auf sie zugeht, weichen sie ein paar Meter zurück. Hören sich unflätigste Beschimpfungen an, gehen wieder vor, wenn er sich umdreht und in die Waschsalon-Tür stellt. Zweimal wird es brenzlig: „Bleib da stehen, Mann“ sagt einer der Polizisten und zielt auf Adel B.. Der spottet über seine Gegenüber: „Schieß, Dicker! Schieß!“ Eine Frauenstimme auf dem Handy-Video sagt: „Gleich hat er einen Schuss im Bein.“
Doch leider: Dieser eine Schuss, der ein paar Minuten später und wenige hundert Meter weiter in der Drügeshofstraße in Altendorf fällt, er trifft Adel B. nicht ins Bein, sondern in die Brust. Dies ergibt später die Obduktion des Leichnams. Es soll, sagt der nach eigenem Bekunden beste Freund des Opfers, auch davon ein Video geben. Ob das stimmt, und wenn es stimmt: was das Video tatsächlich zeigt, muss einstweilen offen bleiben.
„Die Polizei macht auf mich den Eindruck der Befangenheit“
Im Freundes- und Familienkreis reicht schon das Geraune um die Existenz einer solchen Aufnahme. Es sät bei manchen Zweifel daran, dass die Ermittlungen der aus Neutralitätsgründen beauftragten Bochumer Polizei mit jener
SEK war auf dem Weg
Für heikle Fälle wie den in Altendorf hat die NRW-Polizei drei Sondereinsatzkommandos und drei Verhandlungsgruppen in ständiger Rufbereitschaft.
Die Spezialkräfte sind trainiert auch für Messerangriffe, nähern sich im Zweifel in der Kettenkombi möglichen Angreifern.
Eines der Teams war am 18. Juni offenbar unterwegs – kam aber nicht rechtzeitig an.
Unvoreingenommenheit laufen, die versprochen wurde. „Die Polizei macht auf mich den Eindruck der Befangenheit und schüchtert Zeugen ein“, behauptet etwa die Mutter Adel B.s. Augenzeugen seien genötigt worden, Handyaufnahmen zu löschen, und bei der Zeugenvernehmung suggeriere man, „dass die polizeiliche Maßnahme gerechtfertigt sei“.
Eine Gelegenheit, ihre Anwürfe zu belegen, lässt die Mutter allerdings selbst verstreichen: Ein fest vereinbartes Gespräch mit dieser Zeitung wurde auf Anraten ihres Rechtsanwaltes kurzfristig wieder abgesagt.
Warum prangt ein Einschussloch in der Haustür?
Zurück bleiben Fragen: Warum war an der Heimatadresse Adel B.s kein Polizist stationiert? Dem Vernehmen nach wusste die Leitstelle schließlich, dass sie es bei dem Mann mit dem Messer mit einem „Wiederholungstäter“ zu tun hatte. Warum prangt ein Einschussloch in der Glasscheibe der Haustür, wo doch der Schuss mit dem Hinweis erklärt wurde, Adel B. sei auf den Polizisten zugestürmt? Und Polizisten werden nicht müde, einem zu erklären, dass die von den Streifenbeamten genutzte Munition wegen ihrer Mannstopp-Wirkung „aufpilzt“, es deshalb also eher nicht zu Durchschüssen kommt. Warum gelang in der Drügeshofstraße nicht, was vorher zweimal gut funktioniert hatte: den möglichen Selbstmörder auf Distanz zu halten und die Provokationen zu entschärfen?
Das alarmierte Spezialeinsatzkommando war bereits unterwegs
Achselzucken auch bei erfahrenen Polizisten. Auch sie sind erschüttert, empfehlen aber, nun erst recht jene Ermittlungen abzuwarten, die Licht ins Dunkel bringen können. Adel B.s Mutter scheint dafür zu misstrauisch: „Ich bin ratlos und verbittert“, betont sie und spielt mit dem Gedanken, bei einem möglichen Prozess als Nebenklägerin aufzutreten. „Die Umstände des Todes meines Sohnes sollten aufgeklärt und richtig dargestellt werden.“
Aber was bedeutet in diesem Fall „richtig“? Gut möglich, dass mit ein paar Minuten mehr Zeit die Lage nicht eskaliert wäre, denn dem Vernehmen nach war das alarmierte Spezialeinsatzkommando der Polizei bereits unterwegs nach Altendorf. Eine Ahnung, was schieflaufen könnte, ist auf Video festgehalten: „Gehen sie weg von mir“, ruft Adel B. da den Polizisten zu: „Ich will keinen mit reinziehen.“
Hat nicht funktioniert.