Essen. Nach dem Höhenflug bei der Europawahl rechnen sich die Essener Grünen Chancen bei der Oberbürgermeister-Wahl im Herbst 2020 aus.
Während der CDU-OB und sein SPD-Herausforderer schon mitten im Wahlkampf für die OB-Wahl im Herbst 2020 stecken, setzen die Essener Grünen demonstrativ auf Gelassenheit . „Wir lassen uns von niemandem treiben“, sagt Gönül Eglence, eine der beiden Parteivorsitzenden und grüne OB-Kandidatin 2015. „Alles zu seiner Zeit“, fügt auch der Ko-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete Kai Gehring hinzu. Namen fürs Personalkarussell werden nicht mal hinter vorgehaltener Hand genannt. Aber an geeigneten Kandidaten fürs höchste Amt bestehe kein Mangel, heißt es. Rolf Fliß, Urgestein der Essener Grünen, sagt: „Unsere Basis erwartet, dass wir einen OB-Kandidaten aufstellen.“
Bei der Europawahl stimmten 55.000 Essener für die Grünen – so viel wie noch nie
Unübersehbar ist: Der Höhenflug der Essener Grünen bei der jüngsten Europawahl beflügelt die Partei – und weckt die leise Hoffnung, im nächsten Jahr sogar nach der Macht im Essener Rathaus greifen zu können. 55.000 Stimmen für die Grünen bei der Europawahl und nur noch 1500 Stimmen hinter Spitzenreiter CDU: Noch nie haben so viele Essener ihr Kreuz bei den Grünen gemacht. Zum Vergleich: Das bis dato beste Ergebnis erzielten sie bei der Bundestagswahl 1994 mit rund 40.000 Stimmen – allerdings bei einer weitaus höheren Wahlbeteiligung.
Parteichef weist auf „sensationelles Wachstum“ hin: Grüne Basis zählt jetzt 563 Mitglieder
Von einem „fulminanten Wahlergebnis“ spricht deshalb Kai Gehring und nennt im gleichen Atemzug das „sensationelle Mitgliederwachstum“. Seit Jahresbeginn seien 80 neue Mitglieder hinzu gekommen. Verglichen mit 2017, dem Jahr der verlorenen Landtagswahl, hat sich die grüne Basis in Essen damit fast verdoppelt: Aktuell haben die Grünen 563 Mitglieder. Sehr stark sei der Zustrom aus dem urbanen bürgerlichen Milieu, das besonders in Holsterhausen, Margarethenhöhe, Mitte, Rüttenscheid, Frohnhausen und Haarzopf beheimatet ist.
Rolf Fliß, grünes Urgestein, stichelt: „Der OB hat offene Flanken“
Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU), seit Oktober 2015 im Amt, erfreut sich zwar großer Beliebtheit in der Bevölkerung, weshalb sein SPD-Herausforderer Oliver Kern einen schweren Stand haben dürfte. Doch Rolf Fliß, von 2004 bis 2014 dritter Bürgermeister und seit Jahrzehnten in der Kommunalpolitik aktiv, findet: „Der OB hat offene Flanken.“ Gemeint seien Versäumnisse im sozialen Wohnungsbau und beim Klimaschutz sowie die unterlassene Verkehrswende. Der Grünen-Politiker, der von aktuell „drei mittelgroßen Parteien in Essen“ spricht, will bei SPD und CDU eine wachsende Verunsicherung ausgemacht haben. „Ich kann mir gut vorstellen, dass auch Thomas Kufen nervös wird.“
Gleichzeitig warnt er davor, nun die Bodenhaftung zu verlieren. Hiltrud Schmutzler-Jäger, Chefin der Grünen-Ratsfraktion und einst selbst OB-Kandidatin, pflichtet ihm bei: „Wir sollten nicht zu euphorisch werden, Stimmen bei der Europawahl sind nicht automatisch Stimmen bei der Kommunalwahl.“
Unklar ist noch, ob es eine Stichwahl geben wird oder nicht (siehe Infobox). Im Falle einer OB-Wahl ohne Stichwahl könnte ein relativ niedriger Stimmenanteil reichen, um als Erste(r) durchs Ziel zu gehen. Eine Gemengelage, die den nun auf mehr als 20 Prozent angewachsenen Grünen sogar nützen könnte.
„Geeignete Kandidaten im Kreise des Partei- und Fraktionsvorstandes und unter den Abgeordneten“
Im Herbst nächsten Jahres wählen die Essener nicht nur den OB, sondern auch einen neuen Stadtrat, die Bezirksvertretungen und das RVR-Parlament. Gönül Eglence, die Vorsitzende, kündigt an, dass die Kandidatenlisten erst im nächsten Jahr aufgestellt werden. Für das OB-Amt gebe es geeignete Kandidaten, die im Kreise des „Partei- und Fraktionsvorstandes und unter den Abgeordneten“ zu finden seien. Ein klarer Favorit, der alle anderen überragt, ist allerdings nicht darunter.
Dem Bundestagsabgeordneten Kai Gehring werden allerdings eher Ambitionen im Berliner Politikbetrieb nachgesagt. Mehrdad Mostofizadeh, stellvertretender Vorsitzender der Grünen im NRW-Landtag, hält sich – zu eigenen Absichten befragt – ebenfalls bedeckt. Eine präzise Vorstellung hat er jedoch vom Zeitpunkt der Kandidatenkür: „Über unseren Oberbürgermeister-Kandidaten sollte in diesem Herbst entschieden werden.“