Essen. Ein roter Norden, eine grüne Mitte, ein großteils schwarzer Süden und Westen – seit Sonntag ist die politische Landkarte in Essen neu eingefärbt.

Nur noch dritter im Bunde. Eine Partei, die hier Jahrzehnte das Sagen hatte, überholt von CDU und Grünen: Das hat die Genossen umgehauen am Abend der Europawahl, aber Politprofis sind halt wie Stehaufmännchen, und auf der Suche nach der guten Nachricht im Schlechten ist Thomas Kutschaty, Chef von rund 3500 Essener Sozialdemokraten, am Tag danach dann doch noch fündig geworden: „Wir rangieren nicht unter den zehn größten Verlierern im Land.“

Schwacher Trost, aber immerhin.

Klar ist er enttäuscht, sehr sogar. Mehr noch: erschrocken, weil die SPD mit den von Berlin vorgegebenen wolkigen Parolen und ihrem Thema soziale Gerechtigkeit nicht habe durchdringen können, schon gar nicht bei jungen Leuten: „Acht bis neun Prozent haben wir bei Erstwählern geholt, das muss alle alarmieren“, sagt Kutschaty. Er weiß, dass seine Partei dem Youtube-Wahlkampf blauhaariger SPD-Verächter nichts Vergleichbares entgegenzusetzen vermag: Millionen Klicks im Internet, „die kriegt man mit Kugelschreibern und Einkaufswagen-Chips nicht ausgeglichen“.

Die Europawahl hat Essens politische Landkarte dreigeteilt: ein roter Norden, ein grüne Mitte, ein scharzer Süden und Westen. wahl 2019 Online
Die Europawahl hat Essens politische Landkarte dreigeteilt: ein roter Norden, ein grüne Mitte, ein scharzer Süden und Westen. wahl 2019 Online © Grafik: Manuela Nossutta

Wie die Europawahl die politische Karte der Stadt rot-grün-schwarz einfärbte, offenbart die Analyse, die das Wahlamt noch in der Nacht zusammenstellte. Hier die wichtigsten Erkenntnisse:

SPD: 31,9 % als höchstes der Gefühle

Dass man das gute Ergebnis von 2014, als Martin Schulz noch als Zugpferd diente, nicht würde halten können, „das war allen klar“, sagt SPD-Chef Kutschaty. Doch dieser brachiale Absturz kam unerwartet: Von 36,9 Prozent stürzten die Genossen auf stadtweit 20,9 Prozent ab, blieben zwar in 17 von 50 Stadtteilen noch stärkste Partei, doch die vermeintliche Stärke täuscht: Vielfach handelt es sich um Stadtteile mit ohnehin schwacher Wahlbeteiligung.

In keinem einzigen Stadtteil feiern die Genossen auch nur ansatzweise ihre alten Triumphe. 31,9 Prozent in Vogelheim sind das höchste der Gefühle, 11,5 Prozent in Bredeney der mickrige Tiefpunkt. Die größten Verluste bringt den Sozis ein Ex-Parteifreund bei: In Karnap, wo der zur AfD abgewanderte Ratsherr Guido Reil zuhause ist, schrumpft die SPD um atemberaubende 23,5 Prozentpunkte.

CDU: Der Süden bleibt schwarz

Angesicht des Wahl-Desasters für den GroKo-Partner rücken die Verluste der CDU fast schon in den Hintergrund, dabei fallen auch sie beachtlich aus: zwischen drei Prozentpunkten in Bochold und neun in Haarzopf und Heidhausen. Dennoch bleiben die Christdemokraten mit stadtweit 23,4 Prozent obenauf und in 20 der 50 Essener Stadtteile stärkste Kraft: Der gesamte Süden der Stadt und der mittlere Westen bleiben schwarz.

Zwar wurden auch die schwarzen Hochburgen an diesem Europawahl-Sonntag geschleift, jedoch nicht so dramatisch wie bei den Genossen: In immerhin zehn Stadtteilen landet die CDU noch über der 30-Prozent-Marke, in Bredeney und Byfang ist sogar die 40 nicht weit. Den schwächsten Stand haben die Christdemokraten im Nordviertel mit gerade mal 11,5 Prozent.

Grüne: 1597 Stimmen hinter Platz 1

Die Grünen, man kann es nicht anders sagen, feiern diesen Europawahl schier besoffen vor Glück: Mit nur 1597 Stimmen hinter der CDU sind sie zur zweitstärksten Kraft geworden, haben sich in 13 Stadtteilen sogar auf den ersten Platz geschoben, sechs Mal davon mit Ergebnissen über der 30-Prozent-Marke und nirgends unter 13 Prozent.

„Es gibt nichts schönzureden“, sagt Essens SPD-Chef Thomas Kutschaty über das Europawahl-Desaster seiner Partei. Aber wenn es denn ein Trost ist: Die Essener Sozialdemokraten gehörten nicht zu den zehn größten Verlierern im Lande.
„Es gibt nichts schönzureden“, sagt Essens SPD-Chef Thomas Kutschaty über das Europawahl-Desaster seiner Partei. Aber wenn es denn ein Trost ist: Die Essener Sozialdemokraten gehörten nicht zu den zehn größten Verlierern im Lande. © FFS | Foto: Sebastian Konopka

Für sie nicht weniger als eine „epochale“ Bilanz – wie gerufen, um sie als gutes Omen für die Kommunalwahl im Herbst 2020 heranzuziehen.

AfD: Etabliert als vierte Kraft in Essen

Die „Alternative für Deutschland“ – in Essen hat sie einen Namen: Guido Reil. Der Karnaper Ratsherr und Ex-Sozialdemokrat hat in „seinem“ Stadtteil im hohen Essener Norden mit 21,9 Prozent das mit Abstand beste Ergebnis für die AfD eingefahren.

Mag auch der Zugewinn mit stadtweit 4,8 Prozentpunkten unter den kühnsten Träumen der Partei geblieben sein – es reicht immer noch für ein zweistelliges Ergebnis in weiteren 24 Stadtteilen. Mit wenigen Ausnahmen nach oben und nach unten hat sich die AfD in Essen als viertstärkste Kraft etabliert

FDP: Gewinner, aber nicht begeistert

Es gibt Gewinner, über die spricht nach diesem Europawahl-Sonntag keiner: die Liberalen nämlich. Kein einziger Stadtteil, in dem die FDP nicht zugelegt hätte, stadtweit waren es unterm Strich 2,6 Prozentpunkte.

Das zweitbeste Ergebnis bei einer Europawahl, „wir haben vor Ort das Beste aus der herausfordernden Lage gemacht“, lässt sich Parteichef Ralf Witzel zitieren. Und fragt sich doch, warum man mit eigenen Themen nicht so durchgedrungen sei.

Linke: Das Protest-Image verloren?

Eindeutig zu den Verlierern der Wahl gehört die Linke, die bis auf zwei Stadtteile überall Federn lassen musste: Dass die Verluste vor allem in Stadtteilen des Nordens eingefahren wurden, legt einen Verdacht nahe: Die dort erstarkte AfD hat den Linken ein gutes Stück des politischen Protest-Potenzial genommen.