Essen. . Wenn Müllwagen rückwärts fahren, sind Passanten und Müllwerker gefährdet. Die EBE Essen stellt deshalb ein Rückfahr-Kataster auf. Ein Ortstermin.

In engen und zugeparkten Straßen ohne Wendemöglichkeit müssen die Müllwagen der EBE-Flotte seit jeher rückwärts fahren. Weil dies für Passanten und die eigenen Müllwerker aber sehr gefährlich ist und schlimmstenfalls sogar tödlich sein kann, gelten seit 2016 deutschlandweit strenge Regeln. Um sich Klarheit über die Situation in Essen zu verschaffen, ist das städtische Entsorgungsunternehmen EBE nun dabei, alle 3800 Straßen unter die Lupe zu nehmen und ein spezielles Rückfahr-Kataster aufzustellen. Eines, das Eingriffe und Verbote mit sich bringen wird. EBE-Geschäftsführer Stephan Tschentscher nannte am Donnerstag zum ersten Mal konkrete Zahlen: „Wir werden etwa 250 Straßen in Essen klassifizieren, in denen ein Rückfahrtverbot für Müllwagen gelten wird.“

Bedeutet „Stufe Rot“, dass die Anwohner solcher Problemstraßen ihre Abfallbehälter demnächst eigenhändig und obendrein auch noch zu weit vom Haus entfernten Sammelplätzen schaffen müssen? „Das wollen wir nach Möglichkeit vermeiden“, fügt der EBE-Chef hinzu. Plan A werde deshalb sein, die EBE-Flotte um neuartige Mikro-Müllwagen zu erweitern: um kleine und wendige Fahrzeuge zum Stückpreis von 200.000 Euro, die nur noch 1,4 Tonnen Abfall fassen. Zum Vergleich: der klassische EBE-Müllwagen schluckt zehn bis zwölf Tonnen Abfall.

Ortstermin in Werden: Die Straße Rebstock ist eine rote Straße

Rückwärts in die rote Straße Rebstock: „Hier ist uns schon mal ein Vorderreifen geplatzt, weil wir über den Bürgersteig fahren müssen“, sagt Müllwagenfahrer Andreas Wehlitz
Rückwärts in die rote Straße Rebstock: „Hier ist uns schon mal ein Vorderreifen geplatzt, weil wir über den Bürgersteig fahren müssen“, sagt Müllwagenfahrer Andreas Wehlitz © GN

Ortstermin in Werden: Hier führen EBE-Müllwagenfahrer vor, wie stressig und gefahrvoll das Rückwärtsfahren ist. Die Wohnstraße Rebstock ist auch tagsüber auf einer Seite nahezu komplett zugeparkt. Schicke Eigenheime mit Talblick säumen diese Sackgasse, an deren Anfang die Stadt ausdrücklich ein Warnschild aufgestellt hat: „Keine Wendemöglichkeit für Lkw.“ „Das neue EBE-Kataster weist den Rebstock ganz klar als rote Straße aus“, sagt Kerstin Bernholz, Projektleiterin „Rückwärtsfahren“. Die Problemstraße ist exakt 165 Meter lang und hat am Ende lediglich einen Wendekreis von sechs Metern, viel zu wenig für Wagen der aktuellen EBE-Flotte. Hinzu kommt die Enge: Die Fahrgasse ist nur 2,60 Meter breit, mindestens 3,50 Meter müssten es jedoch sein.

Müllwagenfahrer Andreas Wehlitz, seit 1993 bei der EBE, kennt Werden und die anderen südlichen Stadtteile wie seine Westentasche. „Wir müssen im Rebstock nicht nur rückwärts, sondern auch noch über den Bürgersteig fahren“, berichtet er. Und fügt hinzu: „Letztes Jahr ist uns dabei ein Vorderreifen geplatzt.“ Alleine schafft Wehlitz den Rebstock nicht. Er braucht in Straßen wie dieser mindestens einen Kollegen, der ihn einweist. Selbst für routinierte EBE-Fahrer bedeuten solche Rückfahrstraßen Stress: Bloß keine Kollegen und ja keine Passanten gefährden – und dann noch aufpassen, dass am Ende kein Außenspiegel abgefahren ist.

Von 3800 Essener Straße sind für die EBE rund 1000 Rückfahr-Straßen

Bis jetzt haben die EBE-Experten schon das halbe Essener Straßennetz fürs neue Rückfahrkataster erfasst. „Es zeichnet sich ab, dass die Müllwagen in rund 1000 der 3800 Straßen rückwärts fahren“, so Kerstin Bernholz. Den Südbezirk IX (Werden, Kettwig, Fischlaken, Heidhausen, Schuir) haben sie exemplarisch klassifiziert – nach dem Ampelschema. Von 144 erfassten Straßen sind nur 38 grün („keine Beschränkung“) und 31 gelb („Maßnahmen zur Gefahrenabwehr notwendig“). Aber: In 34 („orange“) sei die Vorwärtsfahrt anzuordnen und 41 rote Straßen fallen gar unters Rückfahrverbot.

Bis Anfang 2020 soll das Essener Rückfahrkataster stehen, so EBE-Chef Stephan Tschentscher. Er weist darauf hin, dass die Nachfrage deutscher Städte nach Mikro-Müllwagen sehr groß und die Lieferzeit entsprechend lang (ca. acht Monate) sei. Bevor Sammelplätze für Abfalltonnen eingerichtet werden, will die EBE ein anderes, moderateres Werkzeug einsetzen: das temporäre Halteverbot an Leerungstagen. Ein Instrument, das Nachbarstädte wie Bochum längs erfolgreich eingesetzt haben. Weitere Verbesserungen versprechen sich die Entsorgungsunternehmen von speziellen Rückfahrassistenz-Systemen für Müllfahrzeuge.

Für die Straße Rebstock würde ein neuer Mikro-Müllwagen die Lage übrigens völlig ändern. Tschentscher: „Dann springt die Ampel von Rot auf Grün.“

>>> DESHALB IST RÜCKWÄRTSFAHREN SO PROBLEMATISCH

  • Zwischen 2010 und Herbst 2018 kam es in Deutschland zu 226 tödlichen Unfällen beim Rückwärtsfahren, 632 wurden schwer verletzt. 25 Menschen kamen bei Rückwärtsunfällen durch Abfallsammlung zu Tode, davon 18 Rentner und sechs Einweiser bzw. Lader von Entsorgungsunternehmen.
  • In Cuxhaven wurde 2016 ein Müllwerker (39) tödlich verletzt, der Müllwagenfahrer hatte ihn erfasst. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Spitzenverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand, hat nach dem Fall Cuxhaven die „Regel 114-601“ erlassen.
  • Danach muss es an beiden Seiten der Müllwagen einen Sicherheitsabstand von einem halben Meter geben, außerdem darf die zurückzulegende Rückwärts-Strecke nicht länger als 150 Meter sein.
  • In Essen gab es zwischen 2010 und 2018 einen Unfall, bei dem ein Müllwerker einen Finger verlor, so die EBE.