Essen. . Die Bahn hat in den 1960er-Jahren am Hauptbahnhof einen Atombunker als Kommandozentrale für den Kriegsfall gebaut. Darüber wird ein Hotel gebaut.
Vom Fenster ganz oben im so genannten Ämtergebäude an der Nordseite des Essener Hauptbahnhofs schaut Implenia-Manager Marc Siepmann in die tiefe Baugrube des neuen „Premier Inn“-Hotels. Und räumt mit einem kleinen, aber feinen Missverständnis auf. „Was die meisten für die Sohle des neuen Gebäudes halten, ist in Wirklichkeit die Decke des alten Atombunkers.“ Atombunker – ein monströses Wort, das einem ein leichtes Frösteln über den Rücken jagt. Heute tauchen wir ab in die Essener Unterwelt, um diesen seit bald 30 Jahren ungenutzten und nahezu völlig ausgeräumten Beton-Giganten unter die Lupe zu nehmen: mit gelben Gummistiefeln und orangefarbener Warnweste, weißem Sicherheitshelm und Taschenlampe.
Marc Siepmann, 51, ist Technischer Leiter der Implenia-Niederlassung Essen (früher Bilfinger & Berger) und ein „Essener Junge“. Auch ihn ergreift der Reiz, den diese geheime und hermetisch abgeriegelte Unterwelt verströmt. „Ich wusste selbst nicht, dass es diesen Atombunker in Essen gibt“, gesteht der Diplom-Ingenieur, als er etwa acht Meter unter der Erdoberfläche die erste schwere blaue Stahltür öffnet. „Wir betreten jetzt die Schleuse zum Bunker.“
Oben genießt Essen einen angenehm sonnigen Frühlingsmorgen, hier unten schlagen einem konstante Kälte, Finsternis und eine beängstigende Stille entgegen. Kein Wunder: Die mächtige Bunkerhülle – Außenwände, Decke und Sohle – ist drei Meter dicker Beton. Autogehupe auf der Hollestraße darüber, das Brummen der nahen Untergrundbahn – nichts von dem dringt durch diesen unverwüstlichen Betonpanzer. Die Bunkerluft ist abgestanden, aber keineswegs unangenehm: kalt und trocken, also eigentlich ideal, um hier einen riesigen Weinkeller anzulegen.
„BA Befehlsstelle Essen Hauptbahnhof“
Atombunker gab es an vielen Hauptbahnhöfen, der Essener Verkehrsknotenpunkt zählt zu den wichtigsten im deutschen Schienennetz. „Die Bunker waren nötig, um im Kriegsfall die Infrastruktur soweit wie möglich aufrecht zu erhalten“, sagt Siepmann. Das Licht seiner Taschenlampe fällt auf ein vergilbtes Wartungsblatt, das zuletzt 1981 ausgefüllt wurde und die amtliche Bezeichnung des Bunkers ausweist: „BA Befehlsstelle Essen Hauptbahnhof“.
Solche Befehlsstellen haben in Deutschland eine lange Tradition, weiß Rainer Mertens, stellvertretender Leiter des DB-Museums in Nürnberg, zu berichten: „Die Reichsbahn und später die Bundesbahn unterhielten bei ihren Direktionen sogenannte Befehlsstellen – Kommandozentralen, von denen aus im Kriegsfall der Eisenbahnverkehr in dem jeweiligen Direktionsgebiet gesteuert werden sollte.“
In der Baugrube würde ein fünfstöckiges Haus völlig verschwinden
Der Essener Atombunker umfasst zwei Etagen und hat nahezu dieselbe Grundfläche wie das inzwischen abgerissene DB-Hochhaus, das genau darüber stand. Siepmann holt einen WAZ-Bericht vom Dezember 1962 hervor, den er in den Bauunterlagen gefunden hat. Die Schlagzeile lautet: „16.000 Kubikmeter Erde für Atombunker ausgebaggert.“ Und weiter: „Die Baugrube ist 25 Meter lang, 40 Meter breit und so tief, dass ein fünfstöckiges Haus völlig darin verschwinden würde.“
Wir inspizieren zuerst die Lüftungsanlage, durchmessen den langen Flur mit durchnummerierten Türen zu den Schlafräumen, entdecken die Reste der Telefonzentrale mit dem alten „Telefunken“-Zeichen und erreichen schließlich das Herzstück der Anlage: den Kommandostand. Lediglich die transparente Plexiglaswand, die Mitteleuropa in 99 Quadranten aufteilt, haben sie bei Aufgabe des Bunkers stehen lassen. Essen liegt im Feld „41 GG“, die Grenze zur DDR ist blau-gestrichelt. Polnische Orte und Flüsse tragen immer noch ihre deutschen Namen: Krakau, Posen, Danzig, Memel.
„Ein Überleben von 14 Tagen nach dem Atomschlag“
Je tiefer wir eindringen in die verschachtelte und verwinkelte Bunkerwelt, desto mehr werden der Kalte Krieg wieder lebendig und die Apokalypse greifbar. Eine Zeit, als die Welt am Abgrund stand und das geteilte Deutschland den verfeindeten Atommächten als Schlachtfeld dienen sollte. Der Mauerbau in Berlin und die Kuba-Krise fallen in diese ungemütliche Zeit, als sie in Essen die 16 Meter tiefe Baugrube für den Atombunker aushoben: die damals tiefste Baustelle der Stadt.
Rainer Mertens vom DB-Museum sagt über die Befehlsstellen der deutschen Hauptbahnhöfe: „Einige wurden in den 1970er-Jahren als ABC-Schutzbunker ertüchtigt und erhielten eine Infrastruktur mit Stromaggregaten, Luftfiltern und eigenen Tiefbrunnen, die ein Überleben von ca. 14 Tagen nach einem Atomschlag ermöglicht hätte.“ Es fällt heute schwer sich auszumalen, was der Kommandostand nach einem Atomschlag konkret zu leisten gehabt hätte: Züge voller Panzer, Waffen und Soldaten durch zerstörtes Gebiet von West nach Ost lenken? Schwer verletzte Soldaten und Zivilisten in unverstrahlten Gegenden in Sicherheit bringen?
Inventarliste von 1970 führt „22 Bücher“ und „21 Gesellschaftsspiele“ auf
Der Raum neben dem Kommandostand muss als Aufenthaltsraum gedient haben. Der zum letzten Mal am 11. Dezember 1970 für diese „Warnstelle“ ausgefüllte „Gerätenachweis“ listet als Inventar neben „1 Aktenschrank“ und „2 Stapelstühlen“ noch dies auf: „22 Bücher“ und „21 Gesellschaftsspiele“. Eine groteske Vorstellung: Oben verheertes, verstrahltes Land, ja Weltuntergang, und unten spielen sie „Mensch, ärgere Dich nicht“ und „Halma“.
Weiter geht’s jetzt in die Etage darunter: eine Art Versorgungsebene mit gefliester Küche und Toiletten, Dieselaggregaten und immensen Wassertanks. Die beiden großen fassen jeweils 12.500, der kleinere 6000 Liter: der kostbare Trinkwasser-Vorrat für die ersten 14 Tage nach dem Atombombenangriff. An der Tür Nummer 38 steht das Wort „Arzt“, davor befindet sich die Vorhangschiene der Umkleide. Dass der PVC-Boden der unteren Räume komplett ein paar Zentimeter unter Wasser steht, sei kein Problem, berichtet Implenia-Bauleiter Sebastian Sobina (45). „Nur Regenwasser, das eingesickert ist, wir pumpen es ab.“
Unterirdische Straße führte vom Bahnhof zur Hauptpost
Die Implenia-Leute empfinden den Essener Atombunker, dieses unzerstörbare Relikt des Kalten Krieges, keinesfalls als störend. „Der Atombunker ist ein stabiles Fundament für das neue Hotel“, findet Marc Siepmann.
Aus 16 Metern Tiefe führt eine steile Treppe fast hinauf zum Parkplatz an der Bahnhofs-Nordseite. Ein paar Meter darunter öffnet sich die Tür zu einer weiteren Überraschung, die die Essener Unterwelten hier bereithalten. Wir betreten eine bestens erhaltene Untergrund-Straße, die den Hauptbahnhof früher offenbar mit der Hauptpost verbunden hat und etwa in Höhe der Hollestraße eine scharfe Linkskurve macht. „Hier haben sie Briefe und Pakete hin- und hergefahren“, meint Siepmann.
Es ist angenehm warm in dieser dunklen Straße, und wir hören jetzt ganz deutlich die Geräusche der U-Bahn. Noch ein paar verwinkelte Wege, vorbei an den phosphoreszierenden Orientierungsstreifen, dann ist der aufregende Vormittagsausflug in den Kalten Krieg beendet. Das Haus der Technik kommt zum Vorschein und die Mittagssonne scheint. „Man verliert da unten das Gefühl für Proportionen“, sagt Marc Siepmann und lacht.
>>> BIS 1990 ÜBUNGEN FÜR DEN ERNSTFALL<<<
- Nach Angaben des DB-Museums fanden in den DB-Atombunkern der Bundesrepublik bis 1990 regelmäßig Übungen statt, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden sie in der Regel in Zivilschutzräume für die Bahnbeschäftigten umgewandelt.
- Das in den 1960er-Jahren errichtete und vierzig Meter hohe DB-Verwaltungsgebäude gehörte zuletzt dem von der DB gegründeten Immobilienentwickler Aurelis. Letzter Mieter war die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG, die 2012 auszog.
- Weil eine Kernsanierung der Nordseite des Hauptbahnhofes unwirtschaftlich war, folgten Verkauf und Abriss des Gebäudes. Die britische Hotelkette Premier Inn errichtet einen Neubau mit 193 Zimmern – Eröffnung 2020. Ihr gehört somit auch der alte Atombunker.