Nach Jahren der Kriegs-Barbarei sollte es um das Gute, Wahre, Schöne gehen: Das erklärt Klaus Wisotzky, langjähriger Leiter des Stadtarchivs.
Vor 100 Jahren wurde die Essener Volkshochschule gegründet. Der ehemalige Stadthistoriker Klaus Wisotzky erklärt, warum die Gründung als Folge des I. Weltkriegs verstanden werden kann.
Wie muss man sich die Gesellschaft im Jahr 1919, dem Gründungsjahr der VHS, vorstellen?
Die Gesellschaft des Jahres 1919 war tief gespalten, sie zerfiel in politische Lager, die sich teilweise feindlich gegenüberstanden. Die einen feierten den politischen Umsturz im November 1918, während andere dem Kaiserreich nachtrauerten.Für viele aus dem Umfeld der evangelischen Kirche war der Sturz des Kaisers, der ja auch ihr Kirchenoberhaupt war, ein Verbrechen, das sie den Revolutionären nicht verzeihen konnten. Den Linksradikalen wiederum ging die Revolution nicht weit genug, weshalb sie die neugewählte Regierung bekämpften. So herrschten im Frühjahr 1919 teils bürgerkriegsähnliche Zustände im Ruhrgebiet.
Überall im Ruhrgebiet entstanden Volkshochschulen
War Essen ein Einzelfall, was die VHS-Gründung angeht?
Nein, die Gründung von Volkshochschulen war ein zeittypisches Phänomen. Im ganzen Ruhrgebiet – aber auch anderswo – wurden sie eingerichtet. Zu Recht sprach der bildungspolitische Sprecher der Essener
Sozialdemokratie, August Siemsen, von einer „Volkshochschulepidemie“.
Was ist gemeint, wenn der Auftrag der Essener VHS lautete, sie möge zum „edlen Menschentum“ erziehen?
Was darunter zu verstehen ist, ist schwer zu sagen. Es war sicherlich eine Reaktion auf die Barbarei des Ersten Weltkrieges. Man wollte nun – so führte es der Lehrer und VHS-Mitbegründer Artur Jacobs aus – „durch Beschäftigung mit den großen Gegenständen der Menschheit, den Schöpfungen der Kunst, den Menschheitsfragen der Religion und Philosophie und den Erkenntnisschöpfungen der Wissenschaft die seelischen und sittlichen Kräfte auf dem Wege des Erlebnisses wecken und entfalten und so den menschlichen Horizont weiten und vertiefen“. So sollten Menschen herangebildet werden, „welche in ihrem Berufe, in ihrer Familie, in ihren Volkskreisen durch eine natürliche Geistigkeit, durch lebendiges Wissen, durch reines Wollen, durch vertiefte Auffassung ihrer Arbeit und aller Dinge, in denen sie leben, sauerteigartig wirken und dadurch allmählich ihre Umgebung und das ganz Volk zur Wahrheit, Güte und Schönheit in allen Lebensäußerungen erziehen“.
75 Kurse im ersten Semester
Warum war der Lehrkörper der VHS am Anfang keine Einheit, wie muss man sich das vorstellen?
Hier wirkte sich die Spaltung der Gesellschaft in unterschiedliche Lager aus. Zu Beginn des Jahres 1919 hatte sich sowohl ein sozialistischer wie auch ein katholischer Bildungsausschuss gebildet. Beide beharrten zunächst auf ihre Selbstständigkeit, doch sie waren auf städtische Unterstützung angewiesen, denn ohne öffentliche Gelder und Räume hätten sie ihre Veranstaltungen nicht durchführen können. Der Oberbürgermeister Luther wollte diese jedoch nur „für eine allgemeine Volkshochschule“ hergeben, und so fand man einen Kompromiss, der dann als Essener Modell in die Geschichte der Volkshochschulbewegung eingehen sollte. Es wurde zwar eine städtische Volkshochschule gegründet, doch deren Satzung erlaubte im § 15, dass „Lehrer und Schüler der Hochschule … unter sich Gruppen bilden“ durften. So behielten die bestehenden Ausschüsse, auch wenn sie unter dem Dach der Volkshochschule vereint waren, ihre Autonomie. Es bildeten sich letztlich vier Gruppen – die sozialistische, die katholische, die evangelische sowie eine freie -, die die Lehrkräfte bestimmten und die angebotenen Kurse auswählten. Die Stadt stellte lediglich den alles umhüllenden organisatorischen Mantel.
Wurde das Angebot der VHS direkt gut angenommen?
Ja. Es wurden im ersten Semester bereits 75 Kurse durchgeführt, und ihre Zahl stieg in den Folgejahren noch weiter an. Entsprechend erhöhten sich die Teilnehmerzahlen. Allerdings erreichten sie nicht annähernd die Werte von heute. Zum Vergleich: 1930 gab es insgesamt 4477 Teilnehmer, im Jahr 2017/18 waren es 37544 Teilnehmer.
Das Semesterprogramm: ein Sammelsurium
Was waren die Inhalte der ersten Kurse?
Das Programm war, so muss man kritisch konstatieren, ein Sammelsurium unterschiedlichster Themen, das keine Struktur aufwies, das keinem zugrundeliegenden Plan folgte. Man konnte Kurse über die übertragbaren Volkskrankheiten oder über den weiblichen Körper und seine Pflege ebenso buchen wie einen über die Grundlagen des musikalischen Hörens. Es gab Lehrgänge zum christlichen Gottesglauben als auch zu Karl Marx. Starke Beachtung fanden die Klassiker wie Goethe und die Angebote aus dem Bereich der Naturwissenschaften und der Technik. Dagegen stießen die historischen Veranstaltungen trotz namhafter Dozenten wie Ernst Kahrs oder Konrad Ribbeck auf eher geringes Interesse.
Wie muss man sich die didaktischen Methoden der damaligen Zeit vorstellen?
Es gab keine Vorträge, sondern nur „seminaristische Übungen“, bei denen jede Lehrkraft „den Lehrstoff in lebendigem Gedankenaustausch mit seinen Schülern jeweils neu erarbeiten“ sollte. Im Vordergrund stand dabei – so Artur Jacobs –, „durch gemeinsames Forschen an den Problemen, durch Quellenlesen, selbständiges Aneignen und Verarbeiten des Bildungsstoffs, durch Schülervorträge, gemeinsame Kritik und Besprechung zu lebendiger Gemeinschaftsarbeit anzuregen, deren Wert weniger in dem erlangten Wissen, als in dem Erlebnis besteht, durch das es erworben wird.“
Ab 1933 wurden nur noch „deutschblütige“ Kursteilnehmer zugelassen
Was passierte 1933?
Die weltanschauliche Vielfalt, bedingt durch die Existenz der vier Gruppen, war den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. Zwar versuchte die Volkshochschule, sich den neuen Machthabern anzupassen, indem im Vorlesungsverzeichnis beteuert wurde: „Die Volkshochschule Essen will der geistigen Erneuerung des Volkes im Sinne des deutschen Kulturgedankens dienen. Sie steht auf dem Boden völkischer und christlicher Weltanschauung“. „Das Werk Adolf Hitlers“ gehörte nun ebenso zum Programm wie „Rassenkunde und Eugenik“. Man ließ auch nur noch „deutschblütige, unbescholtene Staatsbürger“ zu den Kursen zu. Doch es nutzte alles nichts. Ohne Begründung wurde der Betrieb mit dem Sommersemester 1933 eingestellt.
Und danach?
Die Essener Volkshochschule, die am 16. Oktober 1946 durch die britische Militärregierung die Erlaubnis zur Wiedereröffnung erhielt, knüpfte an die Arbeit der 1920er Jahre an, auch wenn es die eigenständigen weltanschaulichen Gruppen offiziell nicht mehr gab. Allerdings erfuhr das Angebot inhaltlich eine Erweiterung, als nunmehr neben der eigentlichen Bildungsarbeit auch die Vermittlung von praktischen Kenntnissen wie Fremdsprachen und Steno-Kurse.
DAS GEBURTSTAGSJAHR DER VHS IN ESSEN
- Die VHS hat ihr Jubiläumsjahr unter das Motto „Aufbrüche“ gestellt. So lautet nicht nur das aktuelle Semesterprogramm, sondern so heißt auch der Titel mehrerer Veranstaltungen, die zum Jubiläum stattfinden.