Ruhrgebiet. . Wenn Kinder gebannt vor dem PC hocken, sollten Eltern nicht gleich an Computerspiel-Sucht denken. Medienpädagogin Kristin Langer erklärt, warum.
„Moritz, komm endlich! Das Essen ist fertig!“ Moritz sitzt vor dem Computer, hat den Kopfhörer auf, starrt auf den Bildschirm, betätigt die Tasten der Konsole. Er spricht in das Mikro, mit irgendwem am anderen Ende der Welt, aber nicht mit seiner Mutter.
Die ist schon ziemlich entnervt, dass ihr 14-jähriger Filius mal wieder nicht reagiert, stattdessen seit mehreren Stunden in die Welt des Spiels „Fortnite: Battle Royale“ abgetaucht ist. Das Essen auf dem Tisch wird kalt, die Stimmung im Kinderzimmer dagegen ist auf dem Siedepunkt.
Nicht wenige Eltern kennen diese Situation. Sohn oder Tochter schlagen am Computer Schlachten, bauen Burgen und ganze Welten auf, kämpfen gegen Aliens, Zombies oder andere Aggressoren, sammeln Taler und Punkte – und befinden sich damit für eine gefühlte halbe Ewigkeit in anderen Sphären. Schnell kommt da bei den Erziehungsberechtigten die Angst auf: Ist mein Kind etwa computerspielsüchtig?
Vorsichtig mit dem Begriff „Sucht“ umgehen
Mit dem Suchtbegriff sei sehr vorsichtig umzugehen, sagt Kristin Langer. Sie ist Diplom-Medienpädagogin und als Mediencoach für den Elternratgeber „Schau hin!“ tätig. Sucht könne nie allein an der Spieldauer festgemacht werden. Selbst eine exzessive Nutzung bedeute nicht gleich, dass das Kind krankhaft handele. Mehrere Faktoren seien hierzu notwendig. Grundsätzlich stellt sie fest: „Die digitale Spielewelt ist aufgrund von Gestaltung, Bewegungsabläufen und Bildern eine Herausforderung für die Heranwachsenden – und extrem faszinierend.“
Elternratgeber „Schau hin!“ enthält umfangreiche Infos
Kinder können je nach Alter eine Mitverantwortung bei Computerspielen oder Handynutzung haben. „Eltern dürfen wiederum Pausen einfordern, um Überforderungen zu vermeiden“, erklärt Mediencoach Kristin Langer.
Jugendliche sollen sich im Umgang mit den digitalen Medien sicher fühlen und die Mechanismen dahinter erkennen können. „Vielleicht bietet sich für den einen oder anderen die Teilnehme an Computer-Camps an.“
Wer mehr über Altersgrenzen und Medienzeiten erfahren möchte: Auf www.schau-hin.info gibt es umfangreiches Material dazu.
Sich mit anderen im Spiel zu messen, sich erfolgreich durchzusetzen, Anerkennung zu erfahren, das sei für die Jugendlichen eine wichtige – nicht nur digitale – Erfahrung.
„Die Spielehersteller verstehen es, eine enge Identifikation der Teilnehmer mit der Handlung zu schaffen und Erfolge in Aussicht zu stellen. Die Spieler werden über mehrere Ebenen gebunden und ein gewisser manipulativer Faktor ist dem Ganzen nicht abzusprechen“, analysiert die Medienpädagogin. „Ein Risikofaktor ist das aber nur, wenn die Welt der Kinder aus der Balance gerät.“
Erziehungsberatungsstellen helfen
Digitale und reale Begegnungen sollen ausgewogen sein. Für Heranwachsende ist wichtig, unterscheiden zu können, was in ihrem realen Alltag abläuft und was nur im Spiel geschieht. Kann das Kind das Spiel selbst kontrollieren? Oder ist es überfordert?
Wo Eltern feststellten, dass sich ihr Kind über mehr als sechs Monate abwesend verhalte, nicht genug esse, nicht richtig schlafe, die Hygiene vernachlässige und psychisch nicht mehr ohne diese Spiele auskomme, „dann wird es kniffelig“, erklärt Langer. Gut beraten seien Eltern, wenn sie eine Erziehungsberatungsstelle aufsuchten, um die Situation abzuklären.
Eltern können sich Spiele zeigen lassen
Im Allgemeinen sei der elektronische Spielkonsum aber eine Freizeitaktivität wie jede andere auch. Langer: „Eltern könnten sich die Spiele zeigen lassen, um eben jene Faszination nachvollziehen zu können.“ Vielfach handele es sich um „social games“, also solche, die zur erfolgreichen Bewältigung Teamgeist benötigten.
„Wenn dann die Mutter zum Essen ruft, kann das Kind in einen Konflikt geraten. Lässt es die Freunde, mit denen es gerade gemeinsam eine Aufgabe löst, hängen?“ Eltern sollten nicht zwangsläufig die Essenszeiten verschieben, aber durchaus Verständnis zeigen.
Eltern sind Vorbild
„Verstehen ist besser als verbieten“, findet Kristin Langer und ermutigt die Eltern, mit ihrem Sprössling klare Absprachen zu treffen, wann und wie lange Spiele dauern dürfen. Struktur in der Mediennutzung – das gilt gleichermaßen für die Erwachsenen.
„Die Eltern selbst sind Vorbild“, weiß Langer. Das Smartphone, der Kleincomputer als ständiger Begleiter, sei nicht mehr wegzudenken aus dem Alltag, schnell greifbar, nutzbar und oft ein nützlicher Assistent im Beruf. „Man sollte sich aber klar machen: Ich bestimme über die Nutzung des Gerätes und nicht das Gerät über mich.“
>> BERATUNGSSTELLEN IN ESSEN
Sollte sich bei den Eltern der Verdacht erhärten, dass ihr Kind eventuell internet- oder gamingsüchtig ist, führt der erste Weg nicht zum Therapeuten, sondern in eine Erziehungsberatungsstelle. Dort können die Symptome besprochen werden, und es erfolgt eine Einordnung der Problematik. Die Berater werden überdies Empfehlungen zu einer eventuellen Behandlung und weitere Tipps für die Familien im Umgang mit Medien parat halten.
Die Stadt Essen informiert auf ihrer Homepage www.essen.de über die Erziehungsberatungsstellen des Jugendpsychologischen Dienstes. Dieser hilft weiter, wenn sich ein Kind oder Jugendlicher auffällig verhält, sich vom Elternhaus abwendet, scheinbar grundlos aggressiv reagiert oder sich komplett der Außenwelt verschließt. Kinder und Jugendliche können sich auch unabhängig von den Eltern an die Beratungsstelle wenden.
Die Beratung ist kostenlos. Es stehen psychologische, therapeutische und pädagogische Fachkräfte zur Verfügung. In einigen der Beratungsstellen kann die Beratung auch in türkischer oder englischer Sprache erfolgen.
Eine fundierte Diagnostik
Den Ratsuchenden werden Informationen über die Entwicklung des Kindes und was ihm fehlt an die Hand gegeben. Dies hilft Eltern, die Probleme ihres Kindes besser zu verstehen. Falls nötig, wird eine systematische, wissenschaftlich fundierte Diagnostik angeboten, die Aufschluss über die seelische und geistige Entwicklung und das Befinden des Kindes gibt. Diese hilft bei der Entscheidung über geeignete Hilfen und über wirksame Behandlungsformen.
Das Jugendpsychologische Institut, Paßstraße 2, ist erreichbar unter Tel. 0201/88 51 333, 88 51 330, E-Mail jpi@jpi.essen.de. Weitere Beratungsstellen gibt es außerdem in den Stadtteilen Altenessen, Altenessener Straße 343, Tel. 0201/88 51 349, E-Mail jpi.altenessen@jpi.essen.de, sowie in Altendorf, Kopernikusstraße 8, Tel. 0201/88 51 800, E-Mail jpi.altendorf@jpi.essen.de.
Eine Suchtberatung bietet überdies das Diakoniewerk Essen, Lindenallee 55, Tel. 0201/2664 295 230, an. Auf der Homepage www.diakoniewerk-essen.de sind die Angebote verzeichnet. Die Psychosoziale Beratungs- und Behandlungsstelle der Caritas befindet sich in der Niederstraße 12-16, Tel. 0201/320 03-60.