Lungenarzt Prof. Dieter Köhler über Stickoxid als überschätzte Gefahr, ideologische Wissenschaft, lebensferne Messungen und schweigende Experten.

Herr Prof. Köhler, ein Gericht hat entschieden, dass sehr viele Diesel-Fahrzeuge und ältere Benziner wegen der Stickoxid-Belastung ab Mitte nächsten Jahres in 18 Essener Stadtteilen und auf Teilen der Autobahn A 40 nicht mehr fahren dürfen. Leben wir in Essen gefährlich?

Nein, da kann ich Sie und Ihre Leser beruhigen. Sie leben nicht gefährlich, jedenfalls nicht wegen des Stickoxids und auch nicht wegen der Feinstaubwerte in der Luft.

Prof. Dieter Köhler vermisst in der Stickoxid-Diskussion Sachlichkeit, wissenschaftliche Redlichkeit und gesunden Menschenverstand.
Prof. Dieter Köhler vermisst in der Stickoxid-Diskussion Sachlichkeit, wissenschaftliche Redlichkeit und gesunden Menschenverstand. © Matthias Graben

Das erstaunt etwas, denn das Gerichtsurteil suggeriert ja etwas anderes.

Die Gerichte orientieren sich an den geltenden Grenzwerten. Und kaum jemand fragt mehr, ob diese im Sinne des Gesundheitsschutzes überhaupt relevant sind. Ich bin natürlich nicht gegen Grenzwerte an sich, aber dieser ist schlicht abstrus. Es stirbt kein einziger Mensch wegen des Stickoxids an den Hauptstraßen. Dazu ist die Dosis viel zu gering.

Wie ist der Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickoxid pro Kubikmeter Luft denn entstanden?

Auf sehr zufällige Art und Weise. Da haben sich vor gut zwei Jahrzehnten einige Wissenschaftler zusammengesetzt und sich gefragt, was nehmen wir denn mal, ab wann sind wir ganz auf der sicheren Seite. Dann entstand dieser 40 Mikrogramm-Grenzwert. Die Amerikaner, die bei den Gesetzen zur Luftverschmutzung oftmals sogar strenger sind als wir, haben für sich 100 Mikrogramm festgelegt, das ist absolut ausreichend.

Mit dem US-Grenzwert gäbe es in keiner einzigen deutschen Stadt Fahrverbote.

Und das wäre auch sachgerecht, zumindest bei der Stickoxid-Belastung. Überall, wo es eine offene Flamme gibt, entstehen Werte, die sind ganz legal mitunter um den Faktor hundert höher als 40 Mikrogramm, und trotzdem sind Menschen in der Nähe, etwa an vielen Arbeitsplätzen. Wenn 40 Mikrogramm wirklich gefährlich wären, müsste man beispielsweise sofort alle Küchen mit Gasherd schließen, weil da schnell 4000 Mikrogramm beim aufwendigeren Kochen zusammenkommen. Auch in Kirchen wäre es wegen der Kerzen gefährlich, und allein der Adventskranz im Wohnzimmer mit vier Kerzen produziert über 200 Mikrogramm. Viele Arbeitsplätze dürfte es überhaupt nicht geben. Besonders absurd wird es, wenn man den Vergleich mit Rauchern sieht.

„Ein Raucher, der eine Packung Zigaretten täglich konsumiert, nimmt bis zu 20.000 Mikrogramm Stickoxid in sich auf“

Ist dieser Vergleich nicht auf den ersten Blick angreifbar? Denn Rauchen ist nun zweifellos schädlich.

Und wie! Aber nicht wegen des Stickoxids. Der nichtrauchende Mensch inhaliert pro Tag ca. 400 Mikrogramm, wenn er viele Stunden an der Verkehrsecke mit höchster Belastung stehen würde. Im Zigarettenrauch aber ist eine Konzentration von Stickoxiden bis zu einer Millionen Mikrogramm pro Kubikmeter Luft! Das wird natürlich verdünnt beim Inhalieren. Dennoch nimmt ein Raucher, der eine Packung Zigaretten täglich konsumiert, dabei 10.000 bis 20.000 Mikrogramm in sich auf. Der fällt trotzdem nicht tot um. Natürlich sterben Raucher früher, aber nicht etwa wegen des Stickoxids oder des Feinstaubs, sondern wegen anderer, wirklich giftiger Stoffe, die er dabei inhaliert. Ich habe als Lungenfacharzt 28 Jahre eine große Klinik geleitet. Ich habe tausende tote Raucher gesehen, aber nie einen Toten wegen des Stickoxids.

Aber es wird doch mit der Zahl 6000 Tote, die es allein in Deutschland gäbe, politisch operiert.

Ja, und das ist völlig abstrus. In der zugrundeliegenden Studie des Umweltbundesamtes hat man geschaut, wer lebt länger, die Stadtbewohner oder die Menschen auf dem Land. Ergebnis: Die auf dem Land leben ein bisschen länger. Und dann hat man gefolgert, dass dies so sein müsse, weil die Stickoxid-Belastung dort geringer ist. Es kann aber viele Dutzend Gründe geben, weshalb Menschen auf dem Land älter werden. Sie haben weniger Stress, rauchen weniger, laufen vielleicht mehr, bevorzugen generell einen gesünderen Lebensstil. Zudem ist die Sozialstruktur stabiler, so dass gerade Kranke eher durch die Nachbarschaft versorgt werden. All das ist viel wichtiger für die Frage, wann jemand stirbt. Minimale Unterschiede genügen, und das Stickoxid ist kompensiert; die biologische Wirkung in derart geringen Mengen ist überhaupt nicht messbar. Trotzdem werden Feinstaub und Stickoxid als Ursache für steile Thesen angenommen. Wissenschaftsmethodisch halte ich das für einen Skandal.

„Es ist einfach Unsinn, aus Statistiken heraus solche schwerwiegenden Konsequenzen für das städtische Leben zu beschließen“

Weil die Folgen so gravierend sind?

Es ist einfach Unsinn, daraus eine solche Kausalität abzuleiten und solche schwerwiegenden Konsequenzen für das städtische Leben zu beschließen. Statistisch soll jeder Deutsche wegen des Stickoxids im Durchschnitt ca. 14 Stunden weniger leben, was ich wie gesagt schon für nicht sachgerecht halte. Aber nehmen wir einmal an, es stimmt. Man nimmt dann die Zahl der Deutschen – 84 Millionen – berechnet ihre Lebenserwartung und kommt so statistisch auf einige tausend Tote, die es real aber gar nicht gibt und nie gab.

Warum korrigiert sich die Wissenschaft nicht? Tatsächlich passiert ja das Gegenteil: Der Fachärzteverband Deutsche Gesellschaft für Pneumologie, der Sie auch einmal vorstanden, hat vor einigen Tagen die Politik aufgefordert „umgehend Regularien und Anreize zur Vermeidung von Luftschadstoffen zu schaffen“, wie es in einer Mitteilung hieß.

So pauschal ist das ja auch nicht falsch. Das Papier ist nur leider komplett von der Gruppe herausgegeben worden, von der auch die Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes stammt. Die Mitglieder der Fachgesellschaft wurden nicht gefragt. Viele stimmen dem Papier nicht zu. Wogegen ich mich wende, ist die Panikmache beim Thema Stickoxid und Feinstaub, sind unsachgemäße und teils sogar kontraproduktive Maßnahmen wie Fahrverbote und das Spiel mit Todeszahlen. Dagegen werde ich mit anderen, die wirklich etwas von der Sache verstehen, demnächst ein Positionspapier veröffentlichen.

„Man ist in einer Denkrichtung gefangen, irgendwann ähnelt die Wissenschaftlergemeinde einer Sekte“

Wie laufen nach Ihrer Erfahrung solche wissenschaftlichen Diskussionen?

Die Wissenschaft falsifiziert sich, aber sie macht das sehr zäh. Es gibt viele Beispiele, bei denen letztlich aus politischen Gründen lange an einer These festgehalten wurde, bis eine andere, plausiblere dann doch hochgekommen ist. Oft sind die Unterschiede nicht groß: Methode B ist etwas besser, aber Methode A wurde halt lange gelehrt. Bei Stickoxid und Feinstaub klafft allerdings tatsächlich eine Riesenlücke zwischen den Thesen und der offensichtlichen Wahrheit. Die wissenschaftliche Methode wird hier vernachlässigt. Wir befinden uns in der Sphäre des Ideologischen, man ist in einer Denkrichtung gefangen, irgendwann ähnelt die Wissenschaftlergemeinde einer Sekte. Wer ausbrechen will, hat viel zu verlieren, Ansehen und Forschungsmittel.

Wie kam es zu solchen Engführungen im konkreten Fall?

Eine kleine Forschergruppe versuchte statistisch nachzuweisen, dass Stickoxid gefährlich ist. Sie waren sehr aktiv in der Weltgesundheitsorganisation WHO, dann haben sie riesige Forschungsmittel bekommen, rund 200 Millionen Euro, etwa im Jahr 2000 ging das los. Dann haben die sich sehr aufgebläht und viel geforscht, finden immer kleinste Unterschiede bei allen möglichen Krankheiten, von Hirntumor über Brustkarzinome bis Unfruchtbarkeit – und immer soll es um Stickoxid gehen. Das kann aber gar nicht sein, wo soll so ein Supergift denn herkommen. Es gibt nicht im Entferntesten eine plausible biologische Hypothese, wie denn die vielen Krankheiten überhaupt durch den vergleichsweise harmlosen Feinstaub oder den Stickoxiden entstehen sollen.

Das erklärt aber noch nicht die politische Stoßkraft, die das Thema inzwischen besitzt.

Zunächst hat sich für diese Forschungen keiner besonders interessiert, aber dann kommt der politische Druck ins Spiel. Medien berichteten drüber, Politiker wurden aufmerksam und meinten, man müsse jetzt aber mal was tun. Und dann kam eine Rechtsverordnung – das ist das größte Problem. Aus der Nummer kommt man dann nicht raus, weil das juristisch einklagbar ist. Und da stehen wir heute.

„Das ist wie beim Hexenhammer im Mittelalter: Es wird versucht nachzuweisen, wie man eine Hexe erkennt. Die Frage, ob es Hexen gibt, stellte man nicht“

So etwas wie gesunder Menschenverstand blieb dann aus Ihrer Sicht auf der Strecke?

Genau. Das ist wie beim Hexenhammer im Mittelalter. Es wird darin versucht nachzuweisen, mit welchen Experimenten man eine Hexe erkennt. Die Frage, ob es Hexen überhaupt gibt, stellte man nicht.

Was kann man machen?

Klassische Aufklärung muss her, raus aus der Denkfalle! Kommissionen sollten nicht nur mit Wissenschaftlern aus der Community besetzt werden, sondern auch mit Leuten, die vermeintliche Wahrheiten hinterfragen. Immerhin findet die Gegenposition langsam Gehör. Ich bin diese Woche in Berlin als Experte bei der FDP-Bundestagsfraktion eingeladen, es geht darum, zumindest die Messstationen nicht direkt an die Straße zu stellen, sondern dorthin, wo die Menschen leben.

An der Gladbecker Straße stehen die Messgeräte direkt an der Fahrbahn. Prof. Dieter Köhler hält das für eine lebensferne Methode, die so nur in Deutschland üblich sei.
An der Gladbecker Straße stehen die Messgeräte direkt an der Fahrbahn. Prof. Dieter Köhler hält das für eine lebensferne Methode, die so nur in Deutschland üblich sei. © STEFAN AREND

Ist das nicht Manipulation?

Nein, die Messstationen sollten doch die Lebenswirklichkeit widerspiegeln, das ist auch der Sinn der EU-Verordnung. Niemand steht ja an viel befahrenen Straßen stundenlang vor seiner Haustür. Also müssten die Messstationen 20, 30 Meter weiter weg. Die Belastung der Bevölkerung spiegelt das besser wider, und so machen es die anderen EU-Länder auch. Nur wir in Deutschland wollen da immer die eifrigen Musterschüler sein. Wenn wir es lebensnah machen, wie Messungen ja sein sollten, dürften die meisten Sperrungen schon obsolet sein, kontraproduktiv sind sie sowieso. Denn durch Staus und Umwegfahrten entsteht mehr Stickoxid und auch mehr CO2, was übrigens die entscheidende Belastung ist, was die verkehrsbedingten Schadstoffe anbelangt.

„Die Messstationen sollten die Lebenswirklichkeit widerspiegeln, aber wer steht an viel befahrenen Straßen stundenlang vor der Haustür?“

Sie waren in den letzten Wochen stark präsent in den Medien: Welche Reaktionen gab es?

Zu 98 Prozent waren es positive, manche schon fast zu positiv. Ich will nicht als Held gefeiert werden, sondern einfach nur der Vernunft zum Recht verhelfen. Ich bin übrigens vollkommen unabhängig, halte keine Reden vor Interessenverbänden oder politischen Parteien. Gut, bei den Grünen würde ich eine Ausnahme machen, aber die laden mich nicht ein. Ich verteidige auch nicht die Autoindustrie mit Ihren Schummeleien.

Was sagen die ärztlichen Kollegen? Die meisten scheinen nicht Ihrer Meinung zu sein.

Tatsächlich scheuen viele nur die Öffentlichkeit, weil sie Angst haben, in etwas Politisches reingezogen und dann angefeindet zu werden. Viele melden sich und sagen: Endlich mal einer, der es ausspricht.

Können Sie die Vorsicht verstehen?

Nein. Was soll passieren? Wenn sie ein bisschen Zivilcourage haben, ihre Auffassung gut begründen und dabei freundlich bleiben, erhalten sie oft mehr Beifall, als ihnen lieb ist.

>>>>>>>>>INFO: ZUR PERSON

Prof. Dieter Köhler machte sich in den letzten Wochen einen Namen als Kritiker der Diesel-Fahrverbote, von denen Essen besonders betroffen ist. Der Internist, Pneumologe und Allergologe war von 1986 bis zum Ruhestand im Jahr 2013 ärztlicher Direktor einer Lungenfachklinik im Sauerland. Seit 1994 war er zudem Professor an der Universität Marburg.

Auch in den Verbänden der Lungenheilkunde war Köhler aktiv, war Vizepräsident und von 2005 bis 2007 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie. Den Vorsitz des Verbandes Pneumologischer Kliniken hatte er von 1989 bis 2014 inne. Der Mediziner, Jahrgang 1948, lebt in Schmallenberg.