Essen. Bittere Enttäuschung bei den Essener Genossen: SPD-Ratsherr Karl-Heinz Endruschat findet klare Worte für das magere Ergebnis seiner Partei.
- Grabesstimmung in Raum 2.20 im Essener Rathaus. Dort hat sich am Sonntagabend die SPD getroffen
- SPD-Ratsherr Karl-Heinz Endruschat sagt: "Das Ergebnis war für mich leicht vorhersehbar."
- Essens SPD-Chef Thomas Kutschaty sagt: "20 Prozent sind nicht das Ergebnis für das wir gekämpft, für das wir geackert habe."
In Raum 2.20 des Rathauses ist die erste Kiste Bier um kurz vor 18 Uhr leer. Doch das Wahlergebnis werden sich Essens Sozialdemokraten, die sich hier traditionell zur Wahlparty versammeln, nicht schön trinken können. Die letzten Vorhersagen der Meinungsforschungsinstitute lassen nichts Gutes erwarten für die SPD. Als um 18 Uhr aber die erste Prognose auf dem Fernsehbildschirm erscheint, werden die schlimmsten Erwartungen noch übertroffen. 20 Prozent! Für die SPD ist es das schlechteste Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte. Die rund 100 Genossen wirken wie vor Schock erstarrt. Sekunden später schnellt im TV der blaue Balken der AfD in die Höhe. Einige im Saal kommentieren es mit einem schmerzhaften Stöhnen.
Die erste Hochrechnung bestätigt, was die meisten nicht wahrhaben wollen. Essens SPD-Vorsitzender bricht als erster das Schweigen. „Das Wahlergebnis ist nicht das, war wir uns gewünscht haben“, ruft Thomas Kutschaty in den Saal. Dann spricht er eine Empfehlung in Richtung Berlin aus: Die Partei sei schlecht beraten, mit diesem Ergebnis die Große Koalition fortzusetzen.
Applaus für Oppermann, Trost durch CDU-Abschneiden
Als wenig später Thomas Oppermann, Fraktionschef in Berlin, via TV ähnliches formuliert, hallt Applaus durch den Raum. Sonst tröstet man sich, dass die Unions-Parteien noch stärker verloren haben als die SPD. Sollte sich dieser bundesweite Trend in Essen bestätigen, verhieße das Spannung für das Rennen im Süd-Wahlkreis.
„Sehr enttäuschend“ nennt Direktkandidat Gereon Wolters das Abschneiden seiner Partei auf Bundesebene. Sein Wahlkreis wird da noch ausgezählt; CDU-Kandidat Matthias Hauer liegt zu dieser Stunde vorne. Ob ihn Wolters noch einholen kann? Für den politischen Seiteneinsteiger aus Bochum schwinden die Hoffnungen je weiter der Abend fortschreitet.
Seine Genossen widmen sich da bereits der Ursachenforschung. Wie konnte die AfD so sehr zulegen, auch zu Lasten der SPD? Dirk Heidenblut, Bundestagsabgeordneter und Direktkandidat im Essener Nord-Osten, gibt offen zu, dass er ratlos ist. Offensichtlich hätten sich viele Wähler von den einfachen Antworten der AfD angesprochen gefühlt. Rainer Marschan, SPD-Fraktionschef im Essener Rat, spricht aus, was nicht zu übersehen ist: „Es ist eindeutig, dass wir die Menschen nicht erreicht haben.“
Wahlergebnis keine Überraschung für Endruschat
Am Rande des Saals nimmt Karl-Heinz Endruschat kein Blatt vor den Mund: Das Wahlergebnis sei für ihn überhaupt keine Überraschung. „Die Stimmung war schlecht auf den Straßen, in den Vereinen, überall.“
Endruschat, Ratsherr aus Altenessen und stellvertretender Parteivorsitzender, wirft seiner Partei vor, die Sorgen vieler Menschen nicht wirklich ernst zu nehmen. „Wenn jemand äußert, er fühlt sich nicht mehr zuhause in seinem Land, dann kann man das nicht einfach abtun und sagen, das ist ein Spinner. Und wenn in einer Schulklasse nur ein einziges deutsches Kind sitzt und sonst nur Migranten, wird das natürlich wahrgenommen.“
Erinnerungen werden wach an den Höhepunkt der Flüchtlingskrise als Essens SPD im Streit um den richtigen Umgang damit auseinanderzubrechen drohte. Er wisse, dass er sich mit seiner Meinung in der eigenen Partei keine Freunde mache, sagt Endruschat, den sie damals in den Vorstand wählten, auch um die Partei zu befrieden. An diesem Abend wird deutlich, wie fragil das Gebilde tatsächlich ist.
Diskussionsbedarf bei der SPD-Basis
Hat die SPD im Wahlkampf auf das falsche Pferd gesetzt, als sie und ihr Spitzenkandidat Martin Schulz das Thema soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt rückten? Soziologen wollen herausgefunden haben, dass es nicht in erster Linie die so genannten Modernisierungsverlierer sind, die ihr Kreuz bei der AfD machen, sondern die kulturell Enttäuschten, und die fänden sich in allen Bevölkerungsschichten.
Jens Geier, Essens SPD-Europaparlamentarier, hält die im Wahlkampf gewählte Strategie dennoch für richtig. Soziale Gerechtigkeit sei „der Markenkern“ der SPD, diesen gelte herauszustellen. Nur fühlte sich davon gerade mal jeder fünfte Wähler angesprochen.
Es gibt Diskussionsbedarf, auch in der Essener SPD. Die Partei ist angeschlagen nach diesem Abend. Das gilt auch für die CDU. Da passt ins Bild, dass der Weg zu den Aufzügen, den die müden Wahlkämpfer im Rathaus nehmen, an Plastikeimern vorbeiführt. Aus der Decke tropft Wasser, womöglich aus der Klimaanlage. Das Rathaus, Ort demokratischer Auseinandersetzung, ist leck geschlagen.