Essen. . Dank entspannter Flüchtlingslage und florierender Wohnungsvermittlung werden erste Zeltdörfer aufgelöst. Nun wächst die Sorge vor Überkapazitäten.
- Trotz mancher Probleme sieht Sozialamtsleiter Peltz die Zeltdörfer als „keine schlechte Lösung“
- Zahl der Bewohner in Asylheimen liegt derzeit um fast 1000 unter den Planzahlen der Stadt
- Als wesentlicher Grund hierfür gilt die besonders erfolgreiche Vermittlung von Wohnungen an Flüchtlinge
Viel ist nicht zurückgeblieben: ein paar Memory-Kärtchen und Puzzle-Teile, abgewetzte Bettwäsche und zwei gerahmte Bilddrucke von van Gogh: „Schwertlilien“ und „Die Sternennacht“ haben aus ihrem Zeltquartier hier am Altenbergshof im Nordviertel so etwas wie ein Zuhause gemacht, für manchen ein ganzes Jahr lang.
Jetzt aber ist Schluss, das erste von zehn Asylcamps geräumt. Vergangenen Mittwoch verließen die letzten 245 Flüchtlinge das einstige Sportplatz-Gelände und zogen in ein frisch renoviertes Flüchtlingsheim an der Klinkestraße in Bergerhausen. Auch fürs zweite Zeltdorf sind die Tage gezählt: Diese Woche wird das Camp an der Planckstraße in Holsterhausen aufgelöst; die neue Unterkunft an der Münchener Straße, 400 Meter Luftlinie entfernt, wartet.
Bis April 2017 sollen alle Camps geräumt sein
So wird es weitergehen, Camp für Camp, bis April 2017. Sozialamts-Leiter Hartmut Peltz ist „froh, wenn das mit den Zeltdörfern dann vorbei ist“, einerseits. Denn so viele Menschen auf engem Raum ohne echte Privatsphäre unterzubringen, das war heikel, eine echte Belastung, „keineswegs konfliktfrei“ und am Ende auch richtig teuer.
Und doch, findet Peltz, „war es keine schlechte Lösung“ unterm Strich, gemessen an der Eile, so vielen Menschen ein Dach über dem Kopf zu organisieren, und sei’s auch nur eines aus PVC. Zumal auch andere Unterbringungs-Varianten ihren Preis gehabt hätten, „Provisorien“, betont Peltz, sind nun mal aufwändig und teuer.“ Und der augenzwinkernde Spruch eines NRW-Kollegen beim jüngsten Treffen der Sozialamtsleiter klingt verräterisch: „Braucht hier noch einer ‘ne Traglufthalle?“
Flüchtlingslage hat sich deutlich entspannt
Nein, Essen wohl nicht. Die Flüchtlingslage hat sich bis zum Beweis des Gegenteils deutlich entspannt. So sehr, dass mit jeder weiteren Woche die Warnungen vor dem Aufbau immenser Überkapazitäten an Asyl-Unterkünften lauter werden. So lag die Zahl der Flüchtlinge in städtischen Heimen zum Stichtag 17. August bei 4983 – das sind fast 1000 weniger als die Stadt bis dato kalkulierte.
Nach Peltz’ Worten ist das vor allem der besonders erfolgreichen Vermittlung von Wohnungen an anerkannte Asylbewerber zu verdanken: Allein im Juli zogen 433 Flüchtlinge in ihre eigenen vier Wände. Doch bei der Planung neuer Kapazitäten – egal ob gemietet oder neu gebaut – ist die Stadt noch nicht zurückgerudert.
Ändert sich bei allen anderen Bedingungen nichts Grundlegendes, sind Ende 2017 rund 1700 Asylheim-Plätze frei. Selbst wenn sämtliche angemieteten Hotels und die Behelfsunterkünfte in ehemaligen Schulen aufgegeben würden, blieben noch 500 Plätze unbelegt.
Wie viele Flüchtlinge kommen? Und wie viele Plätze soll die Stadt bereithalten? Ein Blick auf die Stellschrauben der Berechnung
Wie viele wandern zu?
Klingt banal und ist es auch: Niemand weiß verlässlich, wie viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Über eine Million waren es im Ausnahmejahr 2015, mit der Hälfte kalkuliert man 2016, vielleicht weniger, denn bis Ende Juli waren es 238 500 Personen. Länder und Gemeinden schultern die Last der Unterbringung nach einer festgelegten Quote, dem so genannten „Königsteiner Schlüssel“, der sich von Jahr zu Jahr nur minimal verändert. Auf NRW entfallen danach rund 21,14 Prozent, das sind 105 700 Personen. Davon landen etwa drei Prozent in Essen – 3171 Personen. Bundesweit 100 000 Flüchtlinge mehr oder weniger bedeuten also 634 Personen mehr oder weniger in Essen.
...und wie viele wieder ab?
Die Stadt kalkuliert mit rund 600 Personen pro Jahr, die entweder freiwillig in ihre alte Heimat gehen oder dorthin abgeschoben werden, weil ihr Asyl-Antrag scheiterte. Das Platz-Potenzial dahinter ist weit größer, denn von den 4983 Flüchtlingen in städtischen Unterkünften kommt jeder Fünfte, das sind exakt 993 Personen, vom Westbalkan oder aus den Maghreb-Staaten. Sie haben ausgesprochen geringe Chancen auf Asyl.
Wer wechselt in eine Wohnung?
Verglichen mit anderen Städten ist der Wohnungsmarkt in Essen noch halbwegs entspannt. Binnen zwei Jahren will die Sozialverwaltung mit Hilfe des Allbau 4000 Flüchtlingen eigene vier Wände besorgen, doch in der Praxis läuft es noch besser an: Seit Jahresanfang räumten 1736 Personen ihren Platz in der Unterkunft, um in eine Wohnung zu ziehen. Keiner weiß, wie groß das Wohnungs-Potenzial noch ist, zumal im Hartz IV-Bezug Mietobergrenzen existieren. Womöglich sind die letzten Buden in ein, zwei Jahren vom Markt.
Wie viele Asylplätze gibt es schon?
Nach der Aufgabe des ersten Zeltdorfs zählt die Stadt noch rund 3400 Plätze in den neun übrigen Camps, diese werden aber bis April 2017 aufgelöst. Daneben gibt es elf Übergangswohnheime, ein paar angemietete Hotels und Behelfsunterkünfte in alten Schulen – mit zusammen 2133 Plätzen. Die ersten Hotels könnten schon im November 2016 geräumt werden, spätestens ab März 2017 ließen sich – wie versprochen – Hunderte weiterer Plätze aufgeben. Denn es gibt neue Asyl-Standorte:
Wie viele Asylplätze kommen dazu?
Die Stadt hat neun Unterkünfte mit in der Spitze 2320 Plätzen angemietet, die meisten für zehn, zwei sogar für 15 Jahre. Hinzu zählen bereits begonnene und noch geplante Neubauten mit im Maximum 4790 Plätzen. Nutzungszeit: in zehn Fällen bis zehn, sieben Mal 25 Jahre.
Werden alle Plätze belegt?
Nein, die Stadt kalkuliert mit zehn Prozent Abschlag von der theoretischen Kapazität – für Umzüge, Renovierungen und eine Vorsorge-Reserve für mögliche Infektionserkrankungen.
Und das Verhältnis von Plätzen zu Flüchtlingen?
Schwankt. Die Stadt schätzte bislang zu pessimistisch, hat Ende 2017, wenn alle neuen Einrichtungen am Netz sind, erst mal reichlich Plätze zu viel. Zudem könnte sie das Landes-Asyl im Opti-Gewerbepark in Teilen nutzen. Sie kann aber auch nachsteuern, indem sie abgewohnte Einrichtungen dicht macht. Oder indem sie einige Neubau-Projekte mit rund 1500 Plätzen, bei denen die Auftragsvergabe noch aussteht, auf Eis legt. Vorausgesetzt, die Zahl der Flüchtlinge schwillt nicht wieder an. Dann – siehe oben.