Essen. . Sie erhielten durch den Anschlag im April eine traurige Aufmerksamkeit. Nun öffneten die Sikh für unsere Autorin den Essener Tempel.
Um fünf Uhr morgens beginnt der Tag von „Guru Granth Sahib“. Dann kommt ein Priester in das Schlafzimmer und beendet mit einem Ritus die Nachtruhe in dem Bett mit dem seidenen Baldachin und der passenden Bettwäsche. „Guru Granth Sahib“ ist kein Mensch. In dem Bett liegt ein Buch, 1430 Seiten stark. In einer täglich gleichen Zeremonie wird das Heilige Buch der Sikh in den Gebetssaal getragen. „Das ist der lebendige Guru“, erklärt Amrik Singh, der Präsident der Essener Sikh-Gemeinde. Dieser Guru hält Hof von frühmorgens bis abends um halb acht. Dann wird er wieder zu Bett gebracht in einer Zeremonie, die „Sukhasan“ heißt. Das bedeutet: den Guru in eine angenehme Position bringen, in sein prunkvolles Bett, dessen Wäsche nur eine Woche benutzt werden darf und dann eingeäschert wird.
Am Tag liegt „Guru Granth Sahib“ auf einem prachtvollen Altar. Die meiste Zeit ist das Buch zugedeckt. Wer darin lesen möchte und es kann – es ist in Panjabi geschrieben – schlägt die seidene Decke zurück. „Jeder darf darin lesen, Frauen und Männer“, erklärt Mohinder Singh Nagpal, der zweite Vorsitzende, und will damit verdeutlichen: Bei den Sikh herrscht absolute Gleichberechtigung.
Ab und zu kommen Männer und Frauen in den Saal. Sie knien nieder vor dem Altar, gehen wieder. „Tagsüber ist das ausreichend.“ Nicht immer müsse man lange Gebete sprechen. Nur morgens, abends und bei den Gottesdiensten gebe es einen festen Ritus. Und bei religiösen Festen. Davon haben die Sikh eine Menge. Zehn Gurus gab es, die die Religion prägten. Bis der elfte, „Guru Granth Sahib“, das Heilige Buch, diese Stellung übernahm. Die Geburtstage und Todestage der Gurus werden allesamt gefeiert. Und das pompös. Besonders schön sei der Geburtstag des ersten Gurus, „Guru Nanak Dev“. „Das ist ein bisschen wie Weihnachten“, erklärt Jagdeep Singh Virk. „Das Fest fällt in die Winterzeit. Dann zünden wir alle Lichter an. Jeder versucht, in neuer Kleidung zu erscheinen und alle schenken einander Süßwaren.“ Das Fest beginnt am Tag des hinduistischen Lichterfestes „Diwali“ und dauert bis zum Geburtstag des Gurus. „Das bedeutet, wir feiern 15 Tage lang.“
Die traditionellen Regeln
Wichtig ist auch der Geburtstag des zehnten Meisters, „Guru Gobind Singh“. Er schuf die spirituelle Bruderschaft der „Khalsa“, die sich die Reinheit in Gedanken und Tat zum Ziel gesetzt haben. Mohinder Singh Nagpal lebt, wie viele seiner Essener „Brüder“, nach den traditionellen Regeln der Khalsa. Das bedeutet, er muss die fünf „K’s“ tragen.
Das erste „K“ steht für „Kesh“, das lebenslang ungeschnittene Haar und der ungetrimmte Bart, die einen hohen Bewusstseinszustand erhalten sollen. Dazu trägt der Afghane den „Kanga“, den hölzernen Kamm, ein Symbol der Sauberkeit. Die „Katchera“, eine besondere Baumwollunterhose, erinnert an sexuelle Mäßigung zur Erhaltung der Zeugungskraft. Jene übrigens wird bei den Sikh nicht überstrapaziert: Die meisten Familien haben nur zwei Kinder, um diesen eine bestmögliche Ausbildung finanzieren zu können. Das vierte „K“ ist der „Kara“, ein stählerner Armreif. Er soll zeigen, dass sich der Träger der Wahrheit verpflichtet fühlt und als Teil des Kreislaufs des Lebens. Das „Kirpan“ ist ein traditionelles Schwert. Es erinnert daran, dass jeder „Khalsa“ dazu verpflichtet ist, sich schützend vor die Schwachen, Armen und Unschuldigen zu stellen.
Die Decke des Gebetssaals ist ausgehängt mit bunten Lichterketten, die zu den religiösen Feiertagen zum Einsatz kommen. Wie ein Baldachin überziehen sie den goldenen Altar. Gut kann man sich vorstellen, wie sie dessen goldene Farbe zum Strahlen bringen, den großen Schriftzug ausleuchten, der auf der Vorderseite des Altars zu lesen ist. Amrik Singh übersetzt die beiden Worte aus dem Panjabi: „Gottes Name ist wahr.“ Das erinnert an das erste Gebot der Christen. Die beiden Religionen verbindet ein wesentliches Merkmal: Es gibt nur einen Gott.
Anders als die Hindus
Die Sikh lehnen, anders als die Hindus, den Glauben an mehrere Gottheiten ab. Deshalb kam es in den 548 Jahren, in denen es die Sikh-Religion gibt, mehrfach zu Konflikten in der indischen Heimat. Schon der fünfte Meister, „Guru Arjan Dev“, starb unter der Folter des Mogulkaisers. Im Jahr 1726 forderte ein Erlass eines späteren Mogulkaisers die vollständige Ausrottung der Sikh. Sie wurden verfolgt, gefoltert, ermordet. Die Religion überlebte – auch weitere Gewalttaten. Als nach dem Abzug der britischen Besatzer 1946 neue Staaten gegründet wurden für die Religionen der einstigen Kolonie, wurden wieder Opfer gefordert. Auf allen Seiten. Den Muslimen wurde das neue Pakistan zugewiesen, Hindus und Sikh sollten gemeinsam in Indien leben. Wer nicht in seiner „Zone“ wohnte, wurde umgesiedelt. Zehn Millionen Hindus und Sikh mussten Pakistan verlassen, sieben Millionen Muslime wurden aus Indien verwiesen. Die Grenze zwischen beiden Staaten teilte den Punjab, die Heimat der Sikh.
Erst 1984 kam es wieder zu einer Verfolgungswelle. Damals spitzten sich die Kämpfe zwischen radikalen Hindus und separatistischen Sikh zu. Das Militär stürmte die Tempel der Sikh, die von dem eigenen Staat „Khalistan“ träumten.
Mohinder Singh Nagpal erinnert sich gut an die Zeit der Verfolgung, die er in der afghanischen Heimat erlebte. „Die Sikh wurden unterdrückt“, deutet der 60-Jährige an, was ihm widerfuhr. Er floh vor der Gewalt nach Deutschland. Eine abenteuerliche Reise: „Wo der Weg lang ging, sind wir gelaufen“, beschreibt er fast philosophisch. „Wir waren damals alle reiche Leute. Aber wir haben alles verloren.“ Auch in Indien war es nicht anders. Von dort floh Amrik Singh 1984. 28 Jahre war er damals alt. „Es herrschte Bürgerkrieg“, beschreibt er, der in seiner Heimat Geschichte studiert hatte, einer guten beruflichen Zukunft entgegenblickte. Auch das ließ er zurück, schlug sich, im Ruhrgebiet angekommen, in einer Zementfabrik durch. „Heute habe ich ein kleines Geschäft und verkaufe Damenbekleidung.“ Arbeiten tue hier jeder. Müßiggang ist bei den Sikh verpönt. Amriks Sohn Preet gehört zu den ersten, die im Ruhrgebiet geboren wurden. Der Informatiker wuchs mit beiden Kulturen auf. „Ich hatte keine Probleme. Meine Eltern haben sehr darauf geachtet, dass ich kein Außenseiter bin. Deswegen haben wir auch zusätzlich Weihnachten gefeiert.“
Jene, die im Revier eine neue Heimat und ihr Glück suchten, halfen sich untereinander. Erste Ansprechpartner waren der Vater von Jagdeep Singh Virk und seine Familie. Ihnen ist die Gründung des ersten Essener Sikh-Tempels zu verdanken. In einem ehemaligen Ladenlokal habe dieser 1993 erstmals seine Türen geöffnet, erzählt Jagdeep. „Vorher war das ein Edeka.“ Vor zwölf Jahren baute man auf eigenem Grund eine große Gurdwara, einen Sikh-Tempel, in einem Gewerbegebiet an der B 224. Rund 80 Menschen gehören zur Gemeinde. Zu Gottesdiensten kommen zudem viele Gäste aus anderen Städten.
Die Sikh stehen für Frieden und Toleranz
Die Sikh fallen auf. Ihr traditioneller Turban und der lange Bart lassen bei vielen nur einen Gedanken zu: Taliban. „Ich höre so etwas jeden Tag“, sagt Mohinder Singh Nagpal. „Entweder, die Leute nennen mich Taliban oder Bin Laden. Dann erkläre ich jedem, ich bin ein Sikh.“ Nach einer kurzen Pause ergänzt er: „Man sieht doch, dass ich kein Muslim bin. Ich darf meinen Turban in allen schicken Farben tragen.“ Viel wichtiger ist die Erklärung, dass die Sikh für Frieden stehen, für Toleranz, für die Gleichberechtigung aller Menschen. Das verdeutlicht der Name „Singh“, „der Löwe“, den alle Männer als Zeichen der Verbundenheit tragen, und „Kaur“, „die Prinzessin“, wie alle Frauen heißen. Daher wird auch dem gemeinsamen, rein vegetarischen Essen so große Bedeutung beigemessen. In der hinduistischen Kastengesellschaft ist es undenkbar, dass ein Mitglied einer hohen mit dem einer niederen Kaste isst.
Wer den Essener Tempel betritt, findet sich im Speisesaal wieder. Gleich daneben liegt die Küche, in der die Männer am Herd stehen. Was sie eben gekocht haben, füllen sie in Feldgeschirr. Auf eine Bewirtung der Massen sind sie vorbereitet. In der Tradition des Goldenen Tempels in Amritsar, dem heiligsten der Sikh-Tempel, werden in jedem Gotteshaus der Sikh Gäste kostenlos mit Speisen und Getränken versorgt. Ein Symbol für das friedliche Miteinander aller Menschen.
Erst hinter dem Speisesaal liegt der Gebetsraum. Der Altar und „Guru Granth Sahib“ ziehen alle Blicke auf sich. Neben dem Heiligen Buch liegt ein Wedel. Bei Lesungen steht eine Person hinter dem Altar, schwingt die Federn über das Buch. Ein alter Brauch, sagt Nagpal: „Früher, in Indien, gab es viele Fliegen. Die hat man so vertrieben. Hier gibt es keine Fliegen. Aber wir üben diese Tradition weiter aus.“ So werde der Respekt vor dem lebendigen Guru verdeutlicht, sagt Amrik. „Unser Heiliges Buch steht über jedem König.“