Essen. Die große Demo von Essener Türken für Erdogan hat für Befremden gesorgt. Burak Copur über Mentalität und Gefährdungen der deutschtürkischen Community.

Die mehr oder weniger spontanen Versammlungen Essener Türken wegen des Putsches in der Türkei blieben friedlich, obwohl die Leidenschaften auch im Herzen des Reviers hochschlugen. Der türkischstämmige Politikwissenschaftler und Türkei-Experte Burak Copur von der Universität Duisburg-Essen hofft, dass dies so bleibt. Allerdings sei eine Radikalisierung möglich, wenn sich die Lage in der Türkei weiter radikalisieren sollte.

Herr Copur, 5000 Essener Türken versammelten sich am Freitagabend nach den ersten Putsch-Nachrichten und zogen mit türkischen Nationalfahnen vor das Generalkonsulat in Kray. Was ist da los?

Copur: Die Polarisierung und die Konflikte der türkischen Gesellschaft spiegeln sich eins zu eins in der türkischen Community in Deutschland wider, so auch in meiner Heimatstadt Essen. Über soziale Medien und die türkischen Fernsehsender erreichen Nachrichten aus der Türkei in Sekundenschnelle Deutschland. Hinzu kommt: Der Anteil der AKP-Wähler, also der Partei Erdogans, liegt unter Türken in Deutschland bei etwa 60 Prozent. So erklären sich zum Teil die Solidaritätskundgebungen mit der türkischen Regierung vor den türkischen Auslandsvertretungen in Deutschland.

Warum sind Auslandstürken Erdogan derart ergeben?

Copur: Es sind oft Menschen aus eher bildungsfernen, sunnitisch-islamischen Kreisen gewesen, die seit den 1960er Jahren als Arbeitsmigranten nach Deutschland kamen. Diesen Menschen macht Erdogan ein identitätsstiftendes Angebot, er bietet ihnen vor allem aber auch Halt und Unterstützung. Es sind Gesten zur Stärkung des Wir-Gefühls, die sie dankbar annehmen und so in Deutschland von vielen Politikern nicht gefunden haben.

Auch interessant

Warum nicht?

Copur: Weil wir hier jahrzehntelang die Integration versäumt haben. Es gab Lebenslügen auf beiden Seiten des politischen Spektrums in Deutschland. Die Konservativen redeten sich ein: Deutschland ist kein Einwanderungsland und die Türken verlassen ja das Land wieder. Und für die Linken war Ausländerpolitik oft verbunden mit Folklore und Romantik. Deutschkurse betrachtete mancher als Zumutung, als unzulässige Assimilierung. Schauen Sie doch, wie lange es gedauert hat, bis in Essen professionelle Integrationsstrukturen geschaffen wurden. Und noch immer gibt es keine Migranten in Führungspositionen als Amtsleiter oder Dezernenten in der Stadtverwaltung. Dabei würde eine solche Personalpolitik unserer Stadt sehr guttun.

Aber der türkische Staat spielt auch eine Rolle.

Copur: Richtig, das ist die andere Seite. Das Erdogan-Regime betrachtet die Deutschtürken als fünfte Kolonne, die er für sein Machtinteresse instrumentalisieren will. Menschen als Mobilisierungsmasse, das ist das Gefährliche an der Sache.

Viele Deutsche sehen Szenen wie am Freitagabend jedenfalls mit einigem Befremden.

Copur: Das kann ich aus der Sicht von Deutschstämmigen verstehen. Aber viele Türken und Deutsche mit türkischen Wurzeln haben Heimatgefühle und intensive Kontakte mit Verwandten in der Türkei. Doch man muss aufpassen, dass sich die Aggressivität und die brutalen Lynch-Szenen einiger Protestierender gegen den Putsch in der Türkei nicht auch in Deutschlands Straßen abspielen. Der Angriff von rund 150 Erdogan-Anhängern gegen einen Jugendtreff der Gülen-Bewegung in Gelsenkirchen könnte ein Vorbote einer solchen Radikalisierung sein.