Essen. . Vor 50 Jahren wurde Jürgen Bartsch verhaftet, nachdem er vier Jungen umgebracht hatte. Prototyp des psychisch gestörten Schwerstkriminellen.

  • Vor 50 Jahren hat die Polizei den „Kirmesmörder“ Jürgen Bartsch festgenommen
  • Seine Opfer fand Bartsch auf dem Rummelplatz, auch in Huttrop oder Schonnebeck
  • Es ist eine der grausamsten Mordserien in der Nachkriegsgeschichte

Man nannte ihn „Kirmesmörder“, denn seine Opfer fand der Metzgergeselle auf dem Rummelplatz, auch in Huttrop oder Schonnebeck. Immer am Wochenende schlug er zu, samstags oder sonntags. Heute vor genau 50 Jahren, am 21. Juni 1966, nahm ihn die Polizei in seinem Velberter Elternhaus fest – vier Jungen hatte er zwischen März 1962 und Mai 1966 umgebracht, zwei davon aus Essen. Was ans Licht kam, war eine der bis dahin grausamsten Mordserien in der Nachkriegsgeschichte, die die Bürger mit Entsetzen zur Kenntnis nehmen mussten.

Seine Opfer: Klaus J. (8) aus Huttrop, Peter F. (13) aus Wuppertal, Ulrich K. (12) aus Gelsenkirchen, und zuletzt, wenige Wochen vor dem Ende der grausamen Serie, Manfred G. (11) aus Schonnebeck. Auf Kirmesplätzen, meistens am Autoscooter, hatte er sich die Jungen ausgeguckt; mal hatte er erzählt, er sei Detektiv, mal gesagt, er habe eine Aktentasche voller Diamanten. So lockte er die Kinder nach Velbert-Langenberg in einen ehemaligen Luftschutzstollen, dort fesselte er sie, verging sich an ihnen, zerstückelte und tötete sie.

Jürgen Bartsch als Kind in der Metzgerei an der Katernberger Straße. Der Betrieb lief gut, hieß es stets. Später absolvierte er hier eine Lehre.
Jürgen Bartsch als Kind in der Metzgerei an der Katernberger Straße. Der Betrieb lief gut, hieß es stets. Später absolvierte er hier eine Lehre. © dpa

Nur sein allererstes und sein letztes Opfer waren Bartsch entkommen. Sie werden ihm am Ende zum Verhängnis, zumindest indirekt, und schnell wird auch klar, dass Polizei und Justiz die ganze Serie womöglich hätten verhindern können: Schon im Juni 1961, vor den vier Morden, ist Bartsch wegen Körperverletzung angeklagt, er hatte den Sohn eines Langenberger Malermeisters in dem Stollen attackiert und gequält. Doch das Wuppertaler Amtsgericht stellt den Fall ein.

Der Vater des Opfers, jener Malermeister, wohnt ganz in der Nähe des Tatortes. Sein Hinweis nach dem Bekanntwerden der Taten im Juni 1966 ist entscheidend: „Das ist derselbe Bursche, der sich vor Jahren an meinem Jungen vergehen wollte!“ Wenige Tage zuvor kann Peter F., Bartschs letztes Opfer, aus dem Bunker fliehen. An den Kerzen, die Bartsch angezündet hat, durchflämmt er seine Fußfesseln, rennt zur Polizei, führt sie zum Tatort.

Finger und halb verweste Leichen

So findet die Polizei den Stollen an der Heegerstraße in Langenberg – und darin die grausigen Spuren: einen Finger, eine halb verweste Kinderleiche, Strümpfe, einen blau-weiß gestreiften Pullover. Die Eltern der Opfer können ihre Kinder teilweise nur anhand der Kleidungsstücke identifizieren.

StadtgeschichteBartsch ist 15, als er das erste Mal mordet, das ist im März 1962. Die Pathologie seiner Psyche, sadistisch geprägt und schwer bindungsgestört, wird später erschöpfend analysiert; Bücher erscheinen, Filme werden gedreht, auch Theaterstücke entstehen. Versucht wird, eine Antwort zu finden auf die Frage: Warum kann ein Mensch so bestialisch morden?

Bartsch wird im November 1946 in den städtischen Krankenanstalten in Holsterhausen geboren, heute Uni-Klinik, sein wahrer Name lautet Karl-Heinz Sadrozinski. Der Vater ist offenbar im Krieg gefallen, die Mutter, eine Katernbergerin, verstirbt wenige Tage nach der Geburt an Tuberkulose.

Es ist purer Zufall, dass das kinderlose Ehepaar Bartsch den Jungen adoptiert – wegen einer nötigen Operation kommt Frau Bartsch zeitgleich in das Krankenhaus. Es sei für die Eheleute, heißt es, sofort klar geworden, dass sie den Jungen behalten wollten. Nach dem Tod der Mutter war der Säugling mehr schlecht als recht von den Schwestern versorgt worden.

Metzgerei an der Katernberger Straße

Die Familie Bartsch gilt als wohlhabend, betreibt eine gut gehende Metzgerei an der Katernberger Straße. Doch ein heiles Familienleben herrscht dort dennoch nicht. Der Junge, ausgestattet mit neuem Namen, verbringt die ersten sechs Jahre weitgehend isoliert, eingesperrt in der Kellerwohnung. Der Adoptivmutter wird ein Reinlichkeitswahn nachgesagt und die Angst, draußen könnte jemand herausfinden, dass Jürgen nicht ihr leibliches Kind ist. Er darf sich nie schmutzig machen, und selbst mit 19, heißt es, wäscht Frau Bartsch den jungen Mann eigenhändig in der Badewanne.

Seine Schulzeit ist geprägt von Heim-Aufenthalten, unter anderem im Rheingau bei Rüdesheim. Dort, berichtet Bartsch später, sei er sexuell von einem Pfleger missbraucht worden. Zweimal flieht er aus dem Internat, schließlich beginnt er in Katernberg eine Lehre als Metzger im Betrieb des Vaters.

Einerseits ist die Rede davon, dass er beim Bearbeiten des rohen Fleisches „dauerhafte sexuelle Lust“ gespürt habe; andererseits gibt er später zu Protokoll, wenig Freude an der Metzgers-Tätigkeit gehabt zu haben. Dass er sich erotisch zu Jungen hingezogen fühlt, sei ihm im Heim klargeworden. Die sadistischen Gewalt-Phantasien, die er ab 1962 auslebt, kommen wenig später hinzu.

Nachdem die Taten ihres Adoptivsohnes bekanntwerden, schließt das Ehepaar Bartsch den Metzgereibetrieb und verlässt Essen. Jürgen Barsch stirbt mit 29 bei einer freiwilligen operativen Kastration, die seinen Trieb dämpfen sollte.

Charmanter Zauberlehrling – Acht Monate vor der Festnahme hatte Lokalzeitung Bartsch porträtiert 

Acht Monate, bevor Jürgen Bartsch ein umfassendes Geständnis ablieferte, hatte die Essener WAZ-Lokalredaktion noch ein großes, wohlwollendes Porträt über Bartsch verfasst – freilich mit einem ganz anderen Thema: Der Zauberclub „Magischer Zirkel Essen“ wollte den damals 18-Jährigen aufnehmen – als jüngstes Mitglied der Geschichte. Das war der Lokalzeitung einen großen Artikel wert. Zu diesem Zeitpunkt hatte Bartsch bereits drei Kinder umgebracht, ein weiterer Mord sollte folgen.

Die Titelseite der WAZ vom 22. Juni 1966. Das Foto zeigt Bartsch als Zauberkünstler. Acht Monate zuvor hatte die WAZ deshalb ein Interview mit ihm geführt.
Die Titelseite der WAZ vom 22. Juni 1966. Das Foto zeigt Bartsch als Zauberkünstler. Acht Monate zuvor hatte die WAZ deshalb ein Interview mit ihm geführt.

„Rasierklingen verschlingt er mit sichtlichem Genuss und zieht sie an einem Band, sorgfältig gebündelt, wieder aus der Kehle“, schrieb im Oktober 1965 ein staunender Reporter über die Zauberkünste von Bartsch. „Spielkarten lasse ich verschwinden und sich vermehren, Münzen wechseln unbemerkt den Besitzer, und Zigaretten lösen sich in Luft auf“, erzählt Bartsch damals stolz. Wie das alles funktioniert? „Ein Magier muss schweigen können“, raunt Bartsch bedeutungsvoll dem Reporter zu. Seine Zaubertricks hatte er abends geübt, nachdem er seinen Tag in der Metzgerei verbracht hatte.

Als nach seiner Festnahme alles herausgekommen war, schrieb die Lokalzeitung im Juni 1966 erkennbar geschockt: „Wir sprachen, ohne es zu wissen, mit einem Mörder.“ Und auch die Kollegen von damals konnten nur jene Eindrücke teilen, die so viele von Jürgen Bartsch hatten: Als „fleißiger, intelligenter Junge“ war er ihnen erschienen, höflich und mit guten Umgangsformen. „Als er von Gauklern und Hofmagiern erzählte, erkannte man den Träumer, voller Stolz auf seine geheimnisvollen Künste. Er wollte nicht nur ein Metzger sein.“

Was nach der Verhaftung von Jürgen Bartsch geschah 

Der erste Prozess gegen den 21-jährigen Jürgen Bartsch beginnt am 29. November 1967 vor dem Landgericht Wuppertal. Am 15. Dezember 1967 wird der voll geständige Bartsch zu lebenslang Zuchthaus verurteilt. Obwohl er bei den meisten Morden noch minderjährig war, behandelt ihn das Gericht als voll zurechnungsfähigen Erwachsenen. Viele Zuhörer applaudieren nach der Urteilsverkündung, andere fordern lautstark: „Totschlagen“, „Aufhängen“.

Staranwalt Rolf Bossi legt 1969 Revision ein, der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf. Nun verhandelt die Jugendkammer des Landgerichts Düsseldorf.

Im zweiten Prozess wird berücksichtigt, dass Bartsch als Junge im Internat von einem Pater missbraucht wurde. Auch Bartsch’ Familie wird kritisch gewürdigt. Im ersten Prozess hatte der Oberstaatsanwalt noch erklärt: „Das Elternhaus kann nicht besser gedacht werden. [...] Die Mutter hat ihn möglicherweise etwas verzogen, aber ihn mit Liebe und Güte großgezogen.“ Nun ist von der Kälte und Härte der Mutter die Rede, Adoptivvater Gerhard Bartsch sagt, seine Frau habe das „Führerprinzip“ übernommen. „Sie wollte kein Kind, sondern eine Puppe.“

Das neue Urteil
lautet am 6. April 1971 auf zehn Jahre Jugendhaft und spätere Einweisung in eine Heilanstalt. 1972 kommt Bartsch ins Landeskrankenhaus Eickelborn. Er hofft, erfolgreich therapiert zu werden und heiratet 1974 eine Krankenschwester.

Seine Mordphantasien erweisen sich jedoch als nicht therapierbar und so willigt Bartsch in eine Kastration ein. Nach einem Narkose-Fehler bei der Operation stirbt er am 28. April 1976 mit 29 Jahren. Er wird anonym bestattet. Der verantwortliche Arzt wird zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Literatur: Das Selbstbildnis eines Kindermörders in Briefen 

„Jürgen Bartsch: Opfer und Täter“ hat der US-Journalist Paul Moor sein Buch über den Mörder genannt, das 1991 bei Rowohlt erschienen ist. Als Deutschland-Korrespondent war Moor 1966 auf den spektakulären Fall aufmerksam geworden, hatte den Prozess begleitet und das Vertrauen des jungen Häftlings gewonnen. Dieser schilderte ihm in rund 250 Briefen rückhaltlos seine Taten und Gedanken. („Wehe, wenn ich wieder durch die Straße fuhr und einen Jungen sah. Dann war es aus mit der Reue, mit dem Schmerz, ja mit dem Mitleid und dem Weinen.“)

Bartsch beschreibt auch seine durch Lieblosigkeit und Einsamkeit geprägte Kindheit: „Es ist oft passiert, dass ich Schläge bekam, aus dem einfachen Grund, weil ich sie etwas fragen wollte und ihr dabei im Weg war.“ Selbst wenn ihn die Adoptivmutter in den Arm nahm, konnte sie in der nächsten Minute in Rage geraten, weil er etwa seine Schuhe im Haus anbehalten hatte, „nahm sie einen Kleiderbügel und zerschlug ihn auf mir... und jedesmal zerbrach irgendetwas in mir“.

Das Buch ist ein ebenso verstörendes wie erhellendes Psychogramm und Zeitdokument.