Debatte über Stadtteil: „Altendorf ist kein zweites Marxloh“
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Essen. Drogenhandel, Gewalt, Tumulte: Essen-Altendorf ist wiederholt in den Schlagzeilen, hat aber auch ein anderes Gesicht, wurde bei „Essen kontrovers“ deutlich.
NRZ-Diskussionsabend in der VHS über die Lage in Altendorf
Schwuler Bewohner: „Ich habe noch nie so viel verbale Gewalt erlebt“
Anwältin beobachtet täglich 50, 60 Drogendeals vor ihrem Bürofenster
Identifikation mit dem eigenen Stadtteil ist sicherlich gut – ein kritischer Abstand ohne gewachsene Verbundenheit aber führt immer wieder zu Urteilen, die deutlich weniger voreingenommen erscheinen: Während das in der Mehrzahl persönlich tief in Altendorf verwurzelte Podium bei „Essen kontrovers“ am Montagabend in der Volkshochschule sichtlich um die beruhigende Botschaft bemüht war, der Ruf des Sprengels sei wesentlich schlechter als die tägliche Realität, blieb es ausgerechnet einem Zugezogenen vorbehalten, seine komplett andere Sicht der Dinge deutlich zu machen.
Rücksichtslosigkeit, Aggressionen und das Missachten von Regeln, die eigentlich Allgemeingut sein sollten, seien allerorten in dem Stadtteil zu besichtigen.
„Ich habe noch nie so viel verbale Gewalt erlebt“, sagt der schwule Mittzwanziger über wahrnehmbare Intoleranz gerade der ausländischen Bevölkerung gegenüber seiner sexuellen Orientierung. Komme er abends von der Arbeit, sei er froh, nicht über einen Einkaufswagen gestolpert zu sein, den irgendein gleichgültiger Zeitgenosse nach dem Shopping auf dem Bürgersteig fremd geparkt hat. „Es ist dreckig“, während der Drogenhandel floriere und auf den Straßen geradezu Anarchie herrsche: Autos seien „mit 60, 70“ auf den Straßen unterwegs und Rechts vor Links kenne man nicht mehr. „Ist das lebenswert?“, fragt der Zuhörer: „Ich habe da so meine Zweifel.“
50, 60 Rauschgiftgeschäfte vorm Bürofenster
Dass auch die eingeborene Rechtsanwältin Nadine Becker-Knierim von 50 bis 60 Rauschgiftgeschäften, die sich Tag für Tag vor ihrem Bürofenster abspielen, genauso berichtet wie von Klienten, die „nichts mehr im Kühlschrank haben“ und zu ihr „kommen, um zu überleben“, irritiert Wolfgang Weber nicht bei der Suche nach den guten Seiten seines Stadtteils.
Das ist Essen-Altendorf
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Da wird der erfahrene SPD-Ratsherr schnell fündig und dreht den Spieß kurzerhand um: Altendorf sei kein Problem-Quartier, sondern vielmehr ein lebenswerter Stadtteil, wenn auch mit Problemen. „Wir wollen ja nichts verkleistern. Doch es ist an vielen Stellen eher ein Problem, wie ich den Stadtteil darstelle.“ Schließlich gebe es eine „tolle ärztliche Versorgung, einen tollen Metzger, tolle Restaurants, bezahlbaren Wohnraum“ – und vieles Gute mehr, vor allem die Menschen, die sich um ein gutes Miteinander mühen.
„Warum lassen Sie das zu?“
Aber es gibt eben auch den Schuss auf einen Boxer im Döner-Laden, den 16-jährigen Intensivtäter, der einen Pferdepfleger umbringt, wiederholt Tumulte, wenn sich die Polizei einschaltet und – klar – den allgegenwärtigen Drogenhandel.
„Warum lassen Sie das zu?“, fragt Moderator Thomas Becker den Polizeipräsidenten. Zulassen? „Wir haben keinen Ruhetag in der Sache“, sagt Frank Richter: „Geben Sie mir mehr Leute, dann stell ich mehr Leute dahin.“ Im Übrigen sei der Drogenhandel nicht allein ein Kriminalitäts-, sondern vor allem ein soziales Problem, das sich an Angebot und Nachfrage orientiere. „Die Dealer gehen dahin, wo die Kunden sind.“
Dennoch sei „Altendorf kein zweites Marxloh“, auch wenn die Polizei dort deutlich mehr Präsenz zeige als in anderen Stadtteilen. Und mit einer anderen Legende räumt Richter gleich mit auf: „Wir haben keine Bereiche, wo die Polizei nicht hinfährt, weil sie Angst hat. Wir sind als Polizei nicht ohnmächtig.“ Selbst nicht bei wiederkehrenden Straßenkrawallen vornehmlich libanesischer Familienclans, die ein Deutscher mit libanesischen Wurzeln scharf verurteilt: „Es gibt viele meiner Landsleute, die das einfach nicht akzeptieren“, sagt Issa Issa, der sich als Integrationsarbeiter seit Jahren erfolgreich um Jugendliche kümmert, die kaum eine oder gar keine Perspektive haben.
Der Stadtteil immerhin hat eine, ist Margarethe Meyer vom städtischen Büro für Stadterneuerung überzeugt. Auch wenn das mehrjährige Millionen-Projekt „Soziale Stadt“ ausgelaufen sei, seien viele Initiativen weiter bemüht, Altendorf voranzubringen. „Die Menschen machen weiter“, sagt Meyer. Es gebe viele Engagierte.
Schade nur, dass die Altendorfer selbst während des Diskussionsabends von VHS und NRZ mit 100 Zuhörern kaum zu Wort gekommen sind. Vielleicht auch, weil sie die Botschaft linker Berufsbürger irritierte: Wer zu sehr auf die Probleme in Altendorf unter anderem durch Migration abhebe, spiele den Ausländerfeinden doch nur in die Hände.
Bis zum Ende blieb’s deshalb wenig kontrovers, was Thomas Becker zu einem treffenden Schlusswort animierte: „Wenn Altendorf so harmonisch ist wie dieser Abend, dann ziehe ich wieder dahin.“ Das lässt hoffen.
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