Essen. Guido Reil und andere Nord-Sozis sehen täglich, dass SPD-Traditionswähler zur AfD neigen. „Wir müssen wieder näher an die Menschen“. Eine Gratwanderung.

Bei den drei Landtagswahlen am 13. März konnte die AfD bei Arbeitern, Arbeitslosen und Nichtwählern punkten. Es seien somit gerade die alten sozialdemokratischen Traditionsschichten, die inzwischen stark zur AfD neigten, was im Ruhrgebiet bei den nächsten Wahlen zu bösen Überraschungen führen könne, erklärten Politikwissenschaftler jüngst in der WAZ. „Für diese Erkenntnis brauche ich wirklich keine Professoren“, spottet SPD-Ratsherr Guido Reil aus Karnap. „Wer mit offenen Augen und Ohren durch den Essener Norden geht, weiß schon lange, wie enttäuscht die Menschen dort von der Sozialdemokratie sind“, sagt der 46-jährige, der mit seiner Kritik an der Flüchtlings- und Integrationspolitik die Essener SPD aufmischte und darüber auch bundesweit bekannt wurde.

Manche sagen, erst Politiker wie CSU-Mann Horst Seehofer hätten die AfD überhaupt salonfähig gemacht. Auf lokaler Ebene hat auch Guido Reil diese Kritik oft gehört. Nicht nur CDU, Grüne oder Linke, auch viele Sozialdemokraten werfen Reil vor, mit seinen Klagen über gescheiterte Integration von Migranten und die hohe Zahl an Flüchtlingsheimen im Norden „den Rechten in die Hände gespielt“ und damit der eigenen Partei geschadet zu haben. „Exakt das Gegenteil ist richtig“, glaubt hingegen Reil. „Indem ich aufgegriffen und angesprochen habe, was die Leute hier nun mal bedrückt, sagen viele zumindest wieder: Ach guck, die SPD ist ja doch noch da.“

Entfremdung begann lange vor der Flüchtlingskrise

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Die Entfremdung, das gibt auch Reil zu, ist lange vor der Flüchtlingskrise entstanden. Vielmehr geschah dies schleichend mit dem Niedergang der alten Industrien und ihrer Arbeiter-Milieus. „Die SPD konnte diesen Wandel nicht verhindern und das kann man uns auch nicht vorwerfen“, findet Reil, der beruflich als noch aktiver Bergmann wie auch als Karnaper Lokalpolitiker in diesen Milieus lebt. „Was die Menschen hier aber zu Recht bemängeln: Dass die SPD zu wenig präsent ist und über ihre Sorgen hinweggeht.“

Das soziale Wegkippen des Nordens durch zuviel Integrationslasten sei eine dieser Sorgen. Reil: „Dennoch sagen zum Glück immer noch sehr viele, die ich kenne: Mir soll eher die Hand abfallen, als dass ich rechts wähle.“ Diejenigen, die diese Hemmung verloren hätten, „wählen AfD meist aus Protest, nicht aus Überzeugung“. Die seien zurückzugewinnen, „wenn wir die Menschen wieder stärker mitnehmen“, meint Reil.

Guido Reil ahnt, dass er Erwartungen weckte, die schwer zu erfüllen sind

Mitnehmen klingt gut – aber was das politisch konkret heißt, ist die große Frage. Soll die SPD wirklich Leuten entgegenkommen, die auf dem Sprung zur AfD sind? Reicht es diesen Menschen, wenn ein Sozi irgendwie volksnah wirkt? Guido Reil ahnt, dass er dünnes Eis betrat und Erwartungen weckte, die er nur schwer erfüllen kann.

Nachdem die tief verunsicherte SPD-Fraktionsführung es in Verhandlungen mit der CDU geschafft hatte, einige Standorte im Norden aus der Asylheim-Nutzung zu entlassen, hat auch er ja am Ende loyal den Asyl-Kompromiss im Rat mitgetragen. „Hat mir vor Ort aber nicht geschadet“, betont er. Die Nord-Genossen konnten damit wohl tatsächlich bei einigen Bürgern verlorenen Boden gutmachen. Aber wie lange hält das vor?

Nun ist Reil zwar so etwas wie eine Symbolfigur, aber bei weitem nicht der einzige Sozialdemokrat, der meint, die Essener Partei müsse wieder näher ran an die „kleinen Leute“, wie sie mancher etwas romantisierend nennt. Diese zu vergrößernde Nähe gelte sowohl inhaltlich wie auch in Bezug auf die Besetzung von Spitzenpositionen.

Nord-SPD will im neuen Parteivorstand vertreten sein

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Mehrfach trafen sich deshalb in den letzten Wochen die Vertreter von zehn SPD-Ortsvereinen aus dem Norden und Nordwesten, um für den Parteitag am 7. Mai eine Strategie und ein Personaltableau zu finden. Der gesamte Parteivorstand inklusive des Vorsitzenden und seiner Stellvertreter steht nach dem Rückzug von Britta Altenkamp vor einem Neubeginn – und die Gelegenheit soll genutzt werden, Genossen in das Gremium hineinzubekommen, die als basisnah gelten. „Es gibt derzeit zuviele, die in irgendeiner Form beruflich von der Politik oder von Mandatsträgern abhängig sind“, bemängelt Karlheinz Endruschat von der SPD Altenessen. Die Gefahr sei dann groß, mehr zu ideologisieren als die Probleme der Menschen zu erkennen.

Endruschat selbst wird als neuer stellvertretender Parteichef gehandelt, während von Thomas Kutschaty weiterhin erwartet wird, den Vorsitz zu übernehmen. Der NRW-Justizminister gilt als einzige Integrationsfigur, auf die sich alle maßgeblichen Essener Genossen rasch einigen könnten. In der zweiten und dritten Reihe aber soll es eine kleine Revolution geben. Ob sie gelingt, wird sich bald zeigen.